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Interview mit den Gewinnern des Preises für exzellente Lehre – Herr Prof. Deller, Herr Prof. Maronde, Herr Dr. Schomerus und Herr Dr. Vlachos aus der Dr. Senckenbergischen Anatomie

Das spannende Interview spannt den Bogen vom „ganzheitlichen“ Lehrkonzept in der Anatomie (makroskopisch und mikroskopisch), über den Wunsch nach einem neuen Gebäude für die anatomischen Kurse bis hin zum respektvollen Umgang mit den Körperspendern.

„puls.“: „Herr Prof. Deller, Herr Prof. Maronde, Herr Dr. Schomerus und Herr Dr. Vlachos, noch einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Lehrpreis für „Anatomie des Menschen – fit für die Zukunft“! Waren Sie davon überrascht?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Natürlich hat keiner von uns mit dem Preis gerechnet. Wir haben uns ja auch nur deshalb um den Preis beworben, weil wir von den Studierenden der Medizin für den Lehrpreis vorgeschlagen wurden. Auch wir Dozenten sind dankbar für positives “Feed-back” und so haben wir uns alle sehr über die studentischen Vorschläge für den Preis gefreut. Wir haben den Vorschlag als Anerkennung unseres Lehrengagements durch die Studierenden wahrgenommen. Dafür sagen wir den Studierenden “Danke” – das ist für uns Ansporn!
Nachdem wir über den Vorschlag informiert wurden, haben wir uns überlegt, ob wir uns alle Einzeln um Lehrpreise bewerben, oder ob wir dies gemeinsam tun wollen. Da wir den Unterricht eigentlich immer als Aufgabe des ganzen Lehr-Teams ansehen, haben wir uns zu einer gemeinsamen Bewerbung um den Exzellenzpreis entschlossen. Dieser Preis wird nur alle 3 Jahre und eher zurückhaltend vergeben und da haben wir uns dann natürlich nicht so große Chancen ausgerechnet. Aber versuchen wollten wir es.“

puls.: „Was genau beinhaltet die neue Veranstaltung und wie ist sie aufgebaut?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Bei dieser Frage müssen wir ein wenig schmunzeln. Unsere Veranstaltung ist keine “neue” sondern eher eine der ältesten Veranstaltungen einer medizinischen Fakultät. Es ist der Anatomieunterricht sowohl im makroskopischen als auch im mikroskopischen Bereich der Anatomie. Aber eigentlich haben Sie schon Recht. Im Rahmen der Neuen Studienordnung des Fachbereichs Medizin wurde Anfang der 2000er Jahre auch der Anatomieunterricht reformiert. Seit dieser Zeit werden die mikroskopischen und makroskopischen Elemente des Anatomieunterrichts nicht mehr getrennt, sondern zusammen unterrichtet. Ganz konkret: Wenn wir im Präpariersaal Muskeln präparieren, dann wird die mikroskopische Anatomie von Muskelgewebe am Mikroskop erläutert und in der Vorlesung besprochen. So findet zusammen, was zusammen gehört und was lediglich aufgrund der Betrachtungsebene voneinander getrennt wurde. Man kann dieses Konzept als ein “ganzheitliches” Anatomie-Unterrichtskonzept verstehen. An der Umsetzung dieser Reform, die bereits unter dem damaligen Studiendekan Korf begonnen und vom Studiendekan Nürnberger fortgesetzt wurde, waren auch wir Preisträger beteiligt. Wir haben – zusammen mit unseren Kollegen – die Reformen umgesetzt und mit Leben erfüllt. Auch haben wir neue Elemente (Schnittbildanatomie) in den Unterricht eingebaut und dies setzen wir in den kommenden Jahren fort.“

puls.: „Was ist das neue und didaktisch Besondere daran?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Das “ganzheitliche Anatomiekonzept” in die Realität umzusetzen, bedeutete eine ziemliche Sisyphusarbeit. Es bedeutete, dass wir eine komplett neue Kursplanung machen mussten, die Vorlesung wurde auf den Kurs – soweit es ging – abgestimmt, für alle Kurse wurden neue Präparieranleitungen erstellt, die zum Teil von Dr. Sebesteny illustriert wurden und wir haben Modelle und Tool-Boxen im Präpariersaal aufgestellt. Kurzum, der Kurs wurde vollständig umgekrempelt und neu organisiert. Das ging nicht von einem Tag auf den anderen, sondern Jahr für Jahr kam etwas hinzu und so wurde der Kurs insgesamt immer besser strukturiert. Auch haben daran nicht nur die vier Preisträger mitgewirkt. Daran waren alle Institute und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt. Insofern sehen wir den Preis als Preis für die Arbeit der gesamten Anatomie in den vergangenen Jahren an.

Ganz neu ist aber die Einbindung der Schnittbildanatomie gewesen. Hier gab es ein Pilotprojekt, das vom Fachbereich gefördert wurde. Es zeigte, dass die Studierenden die Einbindung der Schnittbildanatomie in den Unterricht sehr begrüßt und begeistert aufgenommen haben. Angehende Ärztinnen und Ärzte profitieren eben sehr von Kenntnissen zu einer “Anatomie des Lebenden”, wie sie mit dem MRT und CT dargestellt werden kann.“

puls.: „An welche Semester richtet sich diese Veranstaltung?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Wir möchten dieses Konzept weiter entwickeln und in allen Teilen des Anatomiekurses (I – Bewegungsapparat, II – Innere Organe, III – Kopf und Nervensystem, IV Systeme/Seminar) auf die Anatomie des Lebenden eingehen. Schnittbilder sind DIE Darstellung der inneren Anatomie eines Lebenden, die Ärztinnen und Ärzte in ihrer Tätigkeit sehen werden. Also sollten sie – entsprechend des “ganzheitlichen” Anatomie-Unterrichtskonzeptes – auch in allen Kursteilen mit Schnittbildern konfrontiert werden und diese interpretieren können. Da haben wir aber noch einiges an Weg vor uns.“

puls.: „Was hat Sie dazu veranlasst, dieses neue Konzept zu entwickeln?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Die Einsicht, dass sich auch der Anatomieunterricht den Herausforderungen der modernen Medizin stellen muss. Die moderne Radiologie kann heute in einem Detailgrad mit nicht-invasiven Methoden in den Körper eines lebenden Menschen hineinschauen, der fast atemberaubend ist. Dies ist die Anatomie, die unsere späteren Ärztinnen und Ärzte sehen und kennen müssen. Diese Anatomie brauchen sie und daher sollten wir Schnittbildanatomie, gerne beraten durch die klinischen Fachkolleginnen und -kollegen, unterrichten.

Aber es gibt noch weitere Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die zu bedenken sind. So z.B. Ultraschall, Endoskopie und endoskopische Operationstechniken. Bei all diesen Techniken wird die Anatomie des Menschen aus bestimmten “Winkeln” betrachtet. Auch wenn wir nicht jeden “Blickwinkel” in unseren Kursen unterrichten können, erscheint es sinnvoll, auf Teilaspekte dieser Anatomie des Lebenden einzugehen.“

„puls.“: „Hat sich die Haltung der Studierenden in den Lehrveranstaltungen im Laufe der Zeit geändert?
Falls ja: Inwiefern?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Wir denken, dass die Medizinstudierenden hoch motiviert sind. Allerdings ist ihre Motivation schon immer am Größten gewesen, wenn wir ihnen vermitteln konnten, wofür sie etwas lernen. Systematische Anatomie hat selten einen Studierenden motiviert. Klinisch orientierte Anatomie, mit dem klar erkennbaren Ziel, gute Ärztinnen und Ärzte auszubilden, stößt auf große Begeisterung bei den Studierenden. Unsere Rückmeldungen zu den Lehrveranstaltungen, in denen wir mit Schnittbildern und Röntgenbildern gearbeitet haben, waren ausnahmslos positiv. Es wurde aber oft bedauert, dass es zu wenig Zeit gab, um auch diese Anatomie noch zu lernen. Das ist sicher ein Thema – durch die Schnittbildanatomie wird die Stoffmenge nicht reduziert. Hier müssen wir uns der Diskussion stellen, ob es auch Prüfungsgegenstände in der Anatomie gibt, die weniger bedeutsam sind und die deshalb weggelassen werden können.“

„puls.: „Ist Ihr neues Lehrangebot eine Reaktion darauf?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Nein. Unser Lehrangebot kommt nicht als Reaktion auf die Haltung der Studierenden. Die positive Einstellung der Studierenden zur Schnittbildanatomie trägt aber sehr dazu bei, dass wir dieses Angebot in unserem Unterricht ausweiten wollen. Wir hoffen, dass uns dies über die Jahre gelingen wird und dabei kann uns auch der Preis helfen.“

„puls.“: „Hatten Sie in Ihrer Studienzeit Hochschullehrer, die Ihnen heute als Vorbild dienen und die Sie für die Lehre begeistert haben?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Jeder von uns hatte Hochschullehrer, die Mentoren und Vorbilder waren und es zum Teil noch sind. Diese Mentoren sind auch ganz ausgezeichnete Forscher, ganz im Humboldtschen Sinne der Einheit von Forschung und Lehre. Insofern haben uns diese Hochschullehrer nicht nur für die Lehre sondern für das Fach an sich begeistert. Moderne Anatomie ist eine ganz moderne Wissenschaft – sie bringt Körperstrukturen und Körperfunktionen zusammen, im Sinne einer Struktur-Funktionsforschung. Dieses moderne Konzept von Anatomie ist etwas, was einige von uns mitgenommen haben und jetzt in der eigenen Lehre auch verwirklichen wollen.“

„puls.“: „Wie schafft man eine gute Lernatmosphäre? Was benötigt man dafür?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Das ist ganz unterschiedlich. Wir denken, hier muss zwischen strukturellen Bedingungen und dem, was jeder Einzelne beitragen kann unterschieden werden. Findet eine Veranstaltung am Wochenende in einem engen, dunklen Raum statt und am Ende noch zwischen 18:00 und 20:00 Uhr abends, dann können Sie als Lehrender machen, was sie wollen. Insofern ist eine gute Lernatmosphäre auch von guten räumlichen Bedingungen abhängig und die Anatomen kämpfen schon seit einiger Zeit um einen Neubau der Anatomie, der dringendst vonnöten wäre. Manchmal scheint uns, als wäre bei der Sanierung des Klinikums die Anatomie vergessen worden – alle Häuser werden renoviert, saniert, neu gebaut, aber die Anatomie steht dort wo sie schon immer stand und sieht aus, wie sie schon seit Jahrzehnten aussieht. Nein, nicht ganz! Einen Flügel des Anatomie-Gebäudes und den Histologie-Saal hat man schon abgerissen und unsere Bibliothek dafür in Container gepackt. Dort wo diese Räume der Anatomie standen wurde dann ein Parkhaus gebaut – das Ergebnis kann jeder heute sehen. Schön wäre es, wenn wir für die Anatomie keine Container sondern gute Räume bekämen, in denen eine gute Lernatmosphäre gedeihen und so noch besser werden kann.

Aber unabhängig davon braucht man natürlich auch das Engagement von Einzelpersonen für den Unterricht. Als Dozenten können wir dazu beitragen, indem wir uns selbst vorbereiten, eine klare Struktur haben, klare Ansagen machen und verbindlich sind. Wir können unseren Studierenden freundlich und sachlich begegnen und sie auf ihrem Lernweg begleiten. Unsere Erfahrung ist, dass Studierende ernst genommen werden wollen – als Menschen und als zukünftige Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir dies tun, uns mit Freude dem Unterricht stellen und einen klinisch orientierten Unterricht anbieten, in den auch stets wissenschaftliche Aspekte einfließen, dann sind viele Studierende mit Begeisterung bei der Sache und das reißt dann auch die ganze Gruppe mit.“

„puls.“: „Wo endet Ihre Toleranz (gegenüber Studierenden in Ihren Lehrveranstaltungen)?“
T., D., E. M., C. S., A. V.: „Studierende sind freiwillig bei uns – viele haben für Ihren Studienplatz hart gearbeitet und sogar zum Teil viele Jahre gewartet. Sehr viele sind hoch motiviert. Aber es gibt auch Studierende, die das Studium nicht ganz so ernst nehmen. Es ist klar, Ärztinnen und Ärzte müssen ein Basiswissen an Anatomie haben – haben sie es nicht, dann sollten sie auch nicht in die Klinik “vorrücken”. Hier haben wir eine gesellschaftliche Aufgabe, das Wissen der zukünftigen Ärztinnen und Ärzte sicher zu stellen.

Aber noch viel wichtiger ist etwas anderes. In den Kursen endet unsere Toleranz sofort, wenn mit den Körperspendern nicht pietätvoll umgegangen wird. Diese Spender haben etwas Großes getan und wir dürfen uns selbst fragen, ob wir dazu fähig wären, unseren Körper nach unserem Tod der Anatomie zu spenden. Sie haben uns damit beauftragt, ihren Körper für die die Ausbildung der Studierenden und die Forschung zu nutzen. Dies in dem Vertrauen, dass mit ihren körperlichen Hüllen respektvoll umgegangen wird. Das erwarten wir dann natürlich auch von unseren Studierenden.
Keine Frage – fast ohne Ausnahme halten sich die Studierenden daran. Und wie wichtig dieser pietätvolle Umgang mit den Körperspendern für die Studierenden selbst ist, erleben wir Jahr für Jahr bei der Gedächtnisfeier und der Grablegung unserer Körperspender. Die Studierenden nehmen mit großem Einfühlungsvermögen daran teil. Es gibt eine Rede sowie musikalische Beiträge der Studierenden und die Urnen der Körperspender werden von unseren Studierenden zu Grabe getragen. Die Anatomie leistet hier einen Beitrag zu einem nachdenklichen, umsichtigen, einfühlsamen Umgang mit dem Thema “Leben und Tod”. Auch dies macht unsere Studierenden “fit für die Zukunft” als Ärztinnen und Ärzte. Und wir Dozenten sind froh darüber, wenn wir jungen Menschen auf ihrem Weg zu diesem verantwortungsvollen Beruf auch auf dieser Ebene Vorbilder und Wegbegleiter sein können.“

puls. dankt Herrn Prof. Deller, Herrn Prof. Maronde, Herrn Dr. Schomerus und Herrn Dr. Vlachos für das ausführliche Interview!

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