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Interview: Mediziner_innen für Menschenrechte

Herr Hoyer hat bereits Studienabschlüsse in Soziologie und Philosophie und studiert jetzt Humanmedizin im 5. klinischen Semester. Im Interview spricht er über die Aktivitäten der Mediziner_innen für Menschenrechte, Public Health, die Schließung des Instituts für medizinische Soziologie, Malteser Migranten Medizin und andere Themen der engagierten Studierenden-Gruppe.

Auf der Seite der „Mediziner_innen für Menschenrechte“ finden Sie weitere Informationen und aktuelle Veranstaltungshinweise.

Interview mit Herrn M.A. Armin Hoyer:

„PULS.“: „Herr Hoyer, Sie sind Mitglied der studentischen Gruppe „Mediziner_innen für Menschenrechte“. Was ist Ihr Anliegen und wie setzen Sie das im Studium um?“
A. H.: „Wir sind eine offene Gruppe Frankfurter Medizinstudierender, die sich mit der sozialen und politischen Dimension der Medizin sowie der medizinischen Ausbildung beschäftigt. Zweimal monatlich treffen wir uns zum Austausch, Besprechen und Planen von Veranstaltungen.
Sozialen Hintergründen und gesellschaftspolitischen Aspekten von Medizin und Gesundheit wird in unserem Studium viel zu wenig Raum eingeräumt. Deshalb sehen wir uns veranlasst, selbst aktiv zu werden. Wir haben in den letzten Jahren Veranstaltungen zu Global Health, Friedensarbeit, medizinische Entwicklungszusammenarbeit, Gesundheitspolitik, Migration und die Lage von Menschen ohne Papiere, Patentrecht und Pharmaindustrie, Palliativmedizin und anderen Themen organisiert.

Zur ärztlichen Verantwortung gehört unserem Verständnis nach insbesondere, dass wir uns den bedeutendsten Gesundheitsproblemen unserer Zeit stellen. Gesundheit ist nun aber untrennbar unter anderem mit Armut, sozialer Exklusion, Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen auf verschiedenen Ebenen, Kriegen, dem Welthandelsregime und politischer Repression verbunden. Um ein Problembewusstsein für Zusammenhänge zwischen sozialen Strukturen und Gesundheit zu entwickeln, braucht es unbedingt Fächer wie die medizinische Soziologie. Sonst kann mensch nicht verstehen, dass Gesundheit etwas mit gesellschaftlicher Ungleichheit zu tun hat. Das sehen wir auch direkt vor unserer Tür: Selbst in einem relativ wohlhabenden Land wie Deutschland mit einer flächendeckenden Krankenversicherung gibt es große gesundheitliche Ungleichheiten, und darüber hinaus hat nicht einmal jeder Mensch Zugang zu medizinischer Versorgung.“

„PULS.“: Welche Personenkreise stehen dabei für Sie im Fokus?

A. H.: „Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis und andere Menschen ohne Krankenversicherung können nicht einfach zu einer Ärztin oder in ein Krankenhaus gehen. Glücklicherweise gibt es einige Organisationen und Initiativen, die in diesen Fällen einspringen. Mit dem Engagement ehrenamtlicher Helfer_innen und finanziert aus Spendenmitteln wird versucht, so gut es geht dennoch eine medizinische Grundversorgung zu gewährleisten. In Frankfurt ist das z.B. die Malteser Migranten Medizin. Studierende aus unserer Gruppe helfen dort ehrenamtlich aus, so erfahren wir von der Lage dieser Menschen. Wenn die Spenden plötzlich einbrechen – in Frankfurt fällt gegen Jahresende ein Großspender weg – droht diesen Stellen das Aus – wie 2011 beim Medibüro Berlin geschehen.
Wie groß die Gruppe von Menschen ist, die von diesen Initiativen in Großstädten gar nicht erst erfahren, ist unbekannt. Ein Feld, das noch weniger an die Öffentlichkeit dringt, ist die Situation und die gesundheitliche Versorgung von Menschen in deutschen Abschiebelagern. Ärzt_innen vom Missionsärztlichen Institut in Würzburg, die sich in diesem Feld engagieren, haben uns bei Vorträgen wiederholt von erschreckenden Fällen berichtet.
Zivilgesellschaftliche Organisationen und ehrenamtliche Helfer_innen stopfen Lücken, die es eigentlich gar nicht geben dürfte: das Recht auf den besten erreichbaren Gesundheitszustand ist ein Menschenrecht! Wir reden hier von Menschenrechtsverletzungen!“

„PULS.“: „Medizin- und Pharmaindustrie erwirtschaften heute in den westlichen Industrienationen gigantische Umsätze. Mediziner werden bereits im Studium von der Pharmaindustrie umworben, später als Ärzte noch wesentlich stärker. Wie können Studierende lernen, derartige verdeckte Werbestrategien wahrzunehmen und sich dagegen zur Wehr setzen?“
A. H.: „Einzutreten für die Unabhängigkeit der Medizin ist uns ein wichtiges Anliegen. Faktisch ist sie tiefgreifend abhängig von industriellen Profitinteressen, sowohl in der Forschung als auch in der Klinik. Prozesse der Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens kollidieren – wie zunehmend sichtbar wird – mit professionsethischen Maximen des Ärzt_innenstandes.
Uns geht es zunächst einmal darum, die verschiedenen Versuche der Einflussnahme von Seiten der Pharma- und Gesundheitsindustrie auf die Medizin in ihrem ganzen Umfang sichtbar zu machen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Über 80% der Fortbildungen für medizinisches Personal – auch für Ärzt_innen – werden in Deutschland von der Pharmaindustrie mitfinanziert; über 15.000 Pharmareferent_innen werden dafür bezahlt, die Verschreibungspraxis von Ärzt_innen zu Gunsten von Profitsteigerungen der Industrie zu manipulieren.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn Medizinstudierende im Laufe ihres Studiums die Problematiken dieser Einflüsse kritisch zu bewerten lernen würden – es geht hier oft um raffiniert aufgezogene Korruption in ganz großem Maßstab.

Einige Sachen können sie mit kritischer Bewertung von publizierten Studien aufarbeiten. Dazu ist eine fundierte Kenntnis der verwendeten Methodiken nötig, die Medizinstudierenden leider oft vermissen lassen und damit schon Manipulationen auf dieser Ebene nicht erkennen können. In Frankreich hat mensch dieses Problem erkannt. Vor einigen Jahren wurde dort eigens ein neuer Kurs ins medizinische Curriculum aufgenommen, der Methodenkritik beim Lesen und Einordnen von Studien lehrt. Unsere EBM-Kurse sind ein guter Ansatz: Hier wird in einem Blockseminar Literaturrecherche und -analyse geübt, was zu einer noch fundierteren Ausbildung in Methodenkritik ausgebaut werden könnte und sollte.
Andere Sachen sehen Sie den Studien selbst nicht an: Wenn die Pharmaindustrie nur Studien mit positiven Ergebnissen veröffentlicht, negative Ergebnisse aber zurückhält; wenn mit den großen finanziellen Ressourcen der Pharmaindustrie im Rahmen einer sogenannten „cherry-pick“-Strategie ökonomisch vielversprechende Forschungszweige – etwa Antidepressiva gegen Depressionen statt Psychotherapie – besonders stark gefördert werden; oder wenn bestimmte Themen in Fachzeitschriften und Medien wegen massiver Hintergrundfinanzierung der Pharmaindustrie eine höhere Präsenz erreichen, dann hilft interne Methodenkritik alleine nicht mehr weiter.
Noch andere Sachen werfen umfassendere Fragen auf: Wie wichtig ist Arzneimittelversorgung generell gegenüber anderen Faktoren, die Krankheit und Gesundheit beeinflussen? Soziale Determinanten bei der Entstehung von Krankheiten etwa sind viel wichtiger als alle Versorgungsleistungen aufgetretener Erkrankungen. Wer immer mehr Geld in Arzneimittelforschung pumpt, verkennt die Ursachen dafür, warum die Ertrinkenden überhaupt erst in den Fluss fallen: Armut, soziale Ungleichheit, soziales Elend, politische Gewalt, Ungerechtigkeiten und Perspektivlosigkeit etc.
Das alles sind Probleme von wachsender Bedeutung. Medizinstudierende bräuchten dringend ein Rüstzeug, um diese Zusammenhänge verstehen und kritisch damit umgehen zu können. Die Unabhängigkeit von Ärzt_innen im Besonderen und der Medizin im Allgemeinen hängt davon ab, ob das gelingt. Im deutschen Medizinstudium kommt all das bislang nicht vor.“

„PULS.“: „Kritische Organisation prangern an, dass der allergrößte Teil der medizinischen Forschung und Versorgung sich mit Krankheiten und Gesundheit der finanzstarken Industrienationen beschäftigt, während der größte Teil der Menschen nicht einmal Zugang zur medizinischen Basisversorgung hat. Dadurch kommen Krankheiten wie tropische Infektionskrankheiten der ärmeren Länder in Forschung, Medikamentenentwicklung und Behandlung wesentlich zu kurz. Wie beurteilen Sie diese Aussage?“
A. H.: „Werden wir konkreter: Im Zeitraum 1975-1999 wurden 1393 neue pharmazeutische Substanzen zugelassen. Zwei Drittel davon hatten gar keinen oder lediglich einen geringen Vorteil gegenüber bereits vorhandenen Arzneimitteln. Sie dienen in der Regel lediglich dazu, ein neues Patent anmelden zu können, unter dessen Schutz ein Monopolist beinahe beliebig hohe Preise verlangen kann. Nur 16 unter diesen 1393 neuen Substanzen – also 1,1% – waren Therapeutika gegen Tropenkrankheiten und Tuberkulose – Krankheiten, die 11,4% der globalen Krankheitslast ausmachen.
Der Begriff „10/90-gap“ will sagen, dass nur 10% der Mittel für medizinische Forschung für Krankheiten und Leiden ausgegeben werden, von denen primär die ärmsten 90% der Weltbevölkerung betroffen sind.
Das zeugt von einem Marktversagen mit skandalösen Ausmaßen, das lediglich mit immensem Aufwand vertuscht werden kann: Pharmaunternehmen geben deutlich mehr Geld für Werbung aus wie für Arzneimittelforschung!

Unter dem Titel ‚Global Health‘ werden von internationalen Organisationen, aber auch im akademischen Bereich zunehmend Zusammenhänge zwischen dem Prozess der Globalisierung und Gesundheit debattiert. Dabei rückt auch dieses eklatante Missverhältnis in der Prioritätensetzung medizinischer Forschung in den Blick. Dieser „gap“ macht deutlich, dass das gegenwärtige System pharmazeutischer Forschung offensichtlich nicht an einer medizinischen Bewertung von Bedürfnissen und Handlungsbedarf ausgerichtet ist. Vielmehr ist die ökonomische Logik der Profitmaximierung maßgeblich dafür, wozu geforscht wird: Ein Medikament, das möglichst viel Gewinn verspricht, ist ein gutes Medikament. Diese Fehlentwicklungen verschärfen sich heute immer mehr und prägen die moderne Medizin so fundamental, dass auch die akademische Medizin sich dem – das ist eines der Hauptanliegen unserer Gruppe Mediziner_innen für Menschenrechte – nicht länger verschließen darf.
Der 10/90-gap in der Arzneimittelforschung ist lediglich ein Beispiel aus dem Kernbereich der Medizin. Im Vergleich zur Arzneimittelforschung und dem Zugang zu Gesundheitsversorgung sind andere soziale Determinanten von Gesundheit und Krankheit noch deutlich wichtiger – und die Ungleichheiten ähnlich verhängnisvoll.

Um diese Zusammenhänge verstehen zu können, ist Hintergrundwissen zu den soziopolitischen Hintergründen von Gesundheit und Krankheit – zu „Global Health“ – nötig. Die Medizinischen Fakultäten der Universitäten kümmern sich zu wenig darum. Die akademische Medizin neigt dazu, biomedizinische Probleme als isolierte Phänomene zu behandeln – die Laborumgebung fördert das –, den Kontext dieser Phänomene und größere Zusammenhänge zu ignorieren und im übrigen die Hand aufzuhalten, wo Drittmittel aus der Industrie zu haben sind.
Weil finanzielle Abhängigkeiten und unhinterfragte Machtstrukturen die etablierten medizinischen Institutionen an einer Neuausrichtung des Gesundheitssystems an den tatsächlichen Bedürfnissen der Weltbevölkerung hindern, liegt es an uns als Medizinstudierenden, liegt es an einer neuen Generation, Initiativen in diese Richtung aufzugreifen und voranzutreiben.
Diese Themen hatten bislang zumindest einen kleinen Raum im Fach der Medizinischen Soziologie – der hiesige Fachbereich hält dieses Fach aber offensichtlich für so unwichtig, dass das Institut im vergangenen Jahr geschlossen wurde und die Professur nicht neu besetzt wird.“

„PULS.“: „Wie beurteilen Sie die Schließung des Instituts für medizinische Soziologie für die Ausbildung der Medizinstudierenden in Frankfurt?“
A. H.: „Eine der wenigen Stellen, an denen diese Zusammenhänge im Medizinstudium thematisiert werden, ist die Medizinische Soziologie. Wir Mediziner_innen für Menschenrechte haben im März 2011 in einem offenen Brief ans Universitätspräsidium und die Mitglieder des Fachbereichsrats gegen die drohende Schließung des Instituts protestiert. Wir halten den kurz darauf gefallenen Entschluss dazu für fatal.
Der Wegfall der Professur bedeutet einerseits eine massive Qualitätseinbuße für die medizinische Lehre: Eine qualitativ hochwertige Lehre ist nur dort möglich, wo Lehrende zugleich über umfassende Forschungserfahrung und theoretische Kenntnisse verfügen und diesen Fundus an Student_innen vermitteln können. Andererseits bricht damit die medizinsoziologische Forschung fast vollständig weg, das verbliebene Lehrdeputat wird für qualifizierte Wissenschaftler_innen uninteressant.
Diese Schließung ist kein Einzellfall – 2008 wurde das renommierte Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft geschlossen, seit 2011 gibt es nicht einmal mehr die dazugehörige sexualmedizinische Ambulanz – , sondern zeugt vielmehr von einer systematischen Vernachlässigung psychosozialer und gesundheitspolitischer Grundlagenfächer durch den hiesigen Fachbereich Medizin.“

„PULS.“: „Welche Seminare und Workshops für Studierende bieten die MedizinerInnen für Menschenrechte an?“
A. H.: „Die Mediziner_innen für Menschenrechte haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Vorträgen, Workshops und Wochenendseminaren organisiert. Es ging dabei um die oben bereits genannten Themen Global Health, Friedensarbeit, medizinische Entwicklungszusammenarbeit, Gesundheitspolitik, Migration und die Lage von Menschen ohne Papiere, Ökonomisierung der Medizin, Patentrecht und Arzneimittelforschung  u.a. Alle Studierenden sind herzlich zu unseren Veranstaltungen eingeladen, wir freuen uns über Zuwachs. Aktuelle Informationen dazu finden sich stets auf unserer Website bei der Fachschaft, der „Gemeinsamen Liste Medizin“.
In diesem Sommersemester fand erstmals das von unserer Gruppe initiierte klinische Wahlfach „Globalisierung und Gesundheit – Von den Ursprüngen der Sozialmedizin zu Global Health“ statt. Wir hoffen, dass das Wahlfach erhalten bleibt und weiter stattfinden kann.

Der Wochenend-Workshop „Palliativmedizin: Psychosoziale Aspekte des medizinischen Handelns“ deckt einen weiteren wichtigen Bereich ab. Die Palliativ-Medizin ist dann gefragt wenn die Hochleistungsmedizin an ihre Grenzen stößt. Es ist eine unabdingbare medizinische Aufgabe, zur Begleitung dieser schweren Phase ein umfassendes psychosoziales Angebot zu machen. Darum unterstützen wir den Ausbau dieses Faches im Medizinstudium sehr. An einem anderen Wochenende haben wir eine Führung durch ein Hospiz und eine Gesprächsrunde mit den dort Arbeitenden organisiert.“

Im April diesen Jahres haben wir ein Wochenendseminar „Kulturelle Aspekte in der Medizin, Einführung in die medizinische Ethnologie“ veranstaltet. Dort ging es um kulturell geprägte Differenzen in Bezug auf Krankheit und Gesundheit, die uns auch im klinischen Alltag begegnen und eine besondere Art von Verständnisleistung erfordern.“

„PULS.“: „Wie ist das Thema „Global health“ an anderen Universitäten vertreten?“
A. H.: „Das Feld Global Health ist gerade an renommierten US-amerikanischen Universitäten stark im Wachstum begriffen, dort gibt es ganze Institute und Masterstudiengänge dazu. Das wird zurzeit etwa von privaten Stiftungen wie der Gates Foundation gefördert. An diesen Stellen wäre eine unabhängige staatliche Förderung sehr wichtig. Denn: Bei privater Förderung drohen neue Abhängigkeiten und die Gefahr einer Instrumentalisierung des Themas.
Dass wichtige ethische und psycho-soziale Aspekte der Medizin in unserem Studium einen schweren Stand, liegt unter anderem aber auch an der Studienstruktur. Die medizinische Ausbildung ist zugeschnitten auf das schnelle Bestehen der vom IMPP gestellten Kreuzklausuren. Gefragt ist eine schnelle Entscheidung zwischen fünf Auswahlmöglichkeiten, die suggerieren, es gäbe stets ein eindeutiges „Richtig“ und „Falsch“. Das wird weder der Komplexität naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung noch der klinischen Erfahrung noch der Komplexität soziopolitischer Zusammenhänge gerecht. Studierende erlernen in dieser Studienstruktur recht schnell, dass es sich nicht lohnt, sich eigenständig mit Inhalten auseinanderzusetzen, Dinge zu problematisieren, kritisch zu hinterfragen und sich darüber ein Verständnis der Zusammenhänge anzueignen. Prämiert wird dagegen das mehr oder weniger flüchtige Sich-Einprägen von Altklausuren, von Fragenkatalogen der Prüfungen vergangener Jahre.
Die Struktur des Medizinstudiums ist ausgelegt auf das effiziente Durchschleusen großer Mengen Studierender, für eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten bleibt dabei kaum Zeit. Nur ein neues Wahlfach anzubieten greift deshalb zu kurz: Es bedürfte einer grundsätzlicheren Reform. Mehrere deutsche Fakultäten haben das bereits erkannt – ob die im Moment daraus hervorgehenden Reformstudiengänge Fortschritte bringen, bleibt abzuwarten. Der Fehler liegt darin, dass die bisherige Studienstruktur nicht die Ausbildung guter Ärzt_innen fördert, die Krankheiten in ihrer bio-psycho-sozialen Vielschichtigkeit angehen, sondern lediglich von Studierenden, die geschickt darin sind, Kreuzklausuren zu bestehen.“

„PULS.“: Was verstehen Sie konkret unter der bio-psycho-soziale Vorstellung von Mensch und Gesundheit. Entspricht dies dem so oft geforderten und genannten „ganzheitlichen Denken“ in der Medizin?“
A. H.: „Ich vermeide den Begriff „ganzheitlich“ bzw. „Ganzheitsmedizin“ und bevorzuge stattdessen den Begriff eines „bio-psycho-sozialen Krankheits- und Gesundheitsverständnisses“.
Das hat zwei Gründe. Erstens ist „Ganzheit“ ein sehr schwammiger, unpräziser Begriff. Was genau soll diese ‚Ganzheit‘ des Menschen sein, die die ‚Schulmedizin‘ vernachlässigt? Der Begriff war historisch ein Kampfbegriff alternativmedizinischer Lager gegen die ‚Schulmedizin‘, das ist eine medizinhistorisch komplexe Auseinandersetzung. Meiner Auffassung nach werden hier lediglich verschiedene Konzepte des Menschen vertreten, verschiedene anthropologische Annahmen treffen aufeinander. Als Philosoph interessieren mich diese Debatten sehr, den Begriff „ganzheitliche Medizin“ halte ich allerdings für unbrauchbar. So ernst ich jede sinnvolle Kritik an dominanten anthropologischen Annahmen der Biomedizin nehme, so wichtig ist mir eine genauere Bestimmung dessen, was einer ‚nicht-ganzheitlichen‘ Medizin angeblich fehlen soll.
Zweitens ist die schwammige Unbestimmtheit des Begriffs „ganzheitliche Medizin“ nämlich bis heute ein Einfallstor auch für alle möglichen partikularistischen bis esoterischen Gruppierungen, die weltanschaulich stark aufgeladene Vorstellungen von einer ‚ganzheitlichen‘ Heilung vertreten, die ich nicht teile und die meines Erachtens nicht zu den Aufgaben einer Medizin in einer säkularen Gesellschaft gehören sollten. Erinnern Sie sich nur daran, dass selbst die Nazis für eine „ganzheitliche Medizin“ eintraten – „Ganzheit“ war dort offenbar gut anschlussfähig an das Vokabular der Volksgesundheit.
Um nicht missverstanden zu werden: Einige der unter dem Begriff „ganzheitliche Medizin“ formulierten Kritiken und Alternativen halte ich für wichtig, aufschlussreich und unterstützenswert. Einige andere nicht. Aber ich möchte mich dabei nicht darauf beziehen, den Menschen erst auf dieser Grundlage in seiner „Ganzheit“ in den Blick zu bekommen – das wäre irreführend.
Stattdessen ziehe ich es vor, die Bezeichnung „bio-psycho-soziales Krankheits- und Gesundheitsverständnis“ zu verwenden. Damit ist gemeint: Im Umgang mit der Patient_in sollte die Medizin den Menschen immer zugleich in seiner körperlichen, psychischen und sozialen Verfasstheit adressieren. Zur Beschreibung einer Krankheit, zur Bestimmung dessen, was Gesundheit ausmacht, gehören das subjektive Erleben der Betroffenen und ihr Lebens- und Arbeitsumfeld genauso wie die physiologische Ätiologie ihres Leidens, ihre persönlichen Beziehungen und die politischen Strukturen, unter denen sie lebt, genauso wie die somatischen Beeinträchtigungen, die sie hat. Auch in der Medizin müssen stets mindestens drei Dimensionen berücksichtigt werden: Körper, Psyche und Gesellschaft. Eine Vernachlässigung einer der Dimensionen führt zu gravierenden Mängeln. Ärzt_innen sind keine Techniker_innen, der lediglich körperliche Defekte reparieren.“

„PULS.“: „Wie kann ein angehender Arzt darin geschult werden?“
A. H.: „Wie die genaue didaktische Umsetzung aussehen könnte – das kann ich Ihnen auf die Schnelle so nicht beantworten. Das bedarf gemeinsamer Anstrengungen. Dafür braucht es zuallererst einen Ausbau und eine deutlich höhere Wertschätzung von Fächern wie der Medizinischen Soziologie und Global Health an medizinischen Fachbereichen. Wir „Mediziner_innen für Menschenrechte“ wollen mit unseren Aktivitäten darauf hinweisen, dass diese Themen stärker im Medizinstudium verankert werden müssen. Diese zu füllen ist Aufgabe des Fachbereichs.
Dazu gehört zunächst einmal, diesen Zusammenhängen einen wichtigen Raum in Lehre und Forschung einzuräumen. Die Neugründung eines eigenständigen, gut ausgestatteten Instituts für Medizinische Soziologie und Global Health wäre zum Beispiel eine gute Idee. Gute Lehre wird nur dort stattfinden, wo qualifiziertes Personal im Umfeld einer Professur zugleich auch forschen kann. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass es in diesem Bereich vorangeht. Es bräuchte einen Kreis qualifizierter Expert_innen, die Veranstaltungsreihen, Kooperationen und Forschungsprojekte aufbauen, direkt aus ihrer Forschung berichten und so die Inhalte nach und nach besser an den Campus bringen würden.
Wenn Sie nach einer Umsetzung in der klinischen Praxis fragen: Ein vielversprechender Ansatz sind Balint-Gruppen, wie sie in der Psychosomatischen Medizin geläufig sind. Ärzt_innen können in diesen Gruppen Fälle vorstellen, die dann zusammen mit einer Gruppe von Kolleg_innen diskutiert werden. Weil dabei die psycho-sozialen Komponenten der Beziehung zwischen Ärzt_in und Patient_in besser in den Blick rücken und auch die eigenen emotionalen Reaktionen reflektiert werden können, wird dabei der auf ein bio-psycho-soziales Krankheits- und Gesundheitsverständnis gestützte Umgang mit Patient_innen geschult. Dieses Modell ließe sich mit Modifikationen auch auf Medizinstudierende übertragen.“

„PULS.“ bedankt sich bei Herrn Hoyer für das ausführliche Interview.

Bettina Wurche, Armin Hoyer

Zum Weiterlesen:

Globalisation and Health Initiative (GandHI), eine AG der BVMD

Medico International

BUKO Pharmakampagne

med4all – Medizinische Forschung, der Allgemeinheit verpflichtet

Universities Allied for Essential Medicines (UAEM)

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