Herr Dr. Sauer ist Philosoph und ehemaliger Krankenpfleger, er arbeitet für das Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Frankfurt.
Herr Frisch ist katholischer Pfarrer und in der katholischen Krankenhausseelsorge des Frankfurter Universitätsklinikums beschäftigt.
„Darf man so etwas tun?“, „Gilt das noch als Lehre?“
hatte uns “ein verwirrter Studiosus” zu Gunter von Hagens „Lehrfilm“ „Anatomy for beginners“ gefragt (Lesen Sie dazu auch die „PULS.“-Beiträge „Ethik: „Anatomy for beginners“ – Was soll man davon halten?“ und „Ethik: Von Hagens „Anatomy for beginners“ – Darf man das“?)
Interview mit Herrn Dr. Timo Sauer und Herrn Rainer Frisch (Ethik-Komitee der Uniklinik Frankfurt)
Gunter von Hagens verstößt mit „Anatomy for beginners“ gegen keine deutschen Gesetze. Trotzdem empfinden viele Menschen Unbehagen beim Ansehen.
„PULS.“ hat im Gespräch mit Herrn Sauer und Herrn Frisch von Ethik-Komitee des Universitätsklinikums diese Fragen diskutiert und nach Antworten gesucht, ob Herrn von Hagens Vorgehen ethisch und moralisch vertretbar ist und wodurch unser Unbehagen ausgelöst werden könnte.
„PULS.“: “Herr Frisch, Herr Dr. Sauer, im Anatomie-Unterricht sollen Ärzte an ihre künftige Aufgabe als Ärzte herangeführt werden. Werden hier nur anatomische Fakten vermittelt oder geht es auch um ethische Fragen?“
R. F.: „Zu Beginn des Präparationskurses gibt es natürlich auch eine Unterweisung zu ethischen Standards: Dabei geht es um Würde und Respekt. Außerdem wird im gesamten Anatomie-Kurs die Individualität der Leiche vermittelt. Jede und jeder Tote sieht innen und außen anders aus. Darum ist auch die Beisetzung der Körperspender so wichtig: Jede Leiche erhält ihren Namen zurück und wird im Beisein sowohl der Studierenden und Dozenten der Anatomie-Kurse als auch ihrer Angehörigen feierlich beigesetzt.“
„PULS.“: „Die Sektion einer menschlichen Leiche ist im Regelfall eine psychische Belastung. Sollte eine Sektion öffentlich aufgeführt werden? Müssen Zuschauer nicht in irgendeiner Weise darauf vorbereitet werden, um die Sektion zu verstehen und mit der psychischen Situation fertig zu werden?“
T. S.: „Der Zugang zu von Hagens Darstellung ist öffentlich. Der Zugang zum Anatomie-Saal ist nur für einen spezifischen Personenkreis erlaubt und möglich. Dadurch können empfindsame Gemüter verstört werden. Der nichtregulierte Zugang kann aber kein zwingendes ethisches Argument gegen von Hagens „Show“ sein.“ Ich glaube darüber hinaus auch nicht, dass man einen moralischen Imperativ gegen so etwas begründen kann. Es widerspricht wahrscheinlich aber den „guten Sitten“ in unserem Kulturkreis.”
R. F.: „Was würde passieren, wenn Herr von Hagens seine Zuschauer vorbereiten und die Leichen danach bestattet würden?
Wären wir dann zufrieden? Doch eigentlich nicht.
Die entscheidenden Punkte sind der Voyeurismus und der Akt der Selbstdarstellung:
„Anatomy for beginners“ ist dramaturgisch aufbereitet, ein inszeniertes Gruselkabinett. Eine attraktive Inszenierung ist aber kein angemessener Umgang mit dem Leichnam. Dies verträgt sich nicht mit dem Ideal der Lehrveranstaltung.
Im Anatomie-Unterricht tritt der Lehrende in den Hintergrund, er ist die unterweisende Person. Die Ziele des Lehrenden und des Unterrichts sind nicht eitel. Zwischen einer Lehrveranstaltung im Sinne der Aufklärung und einer primär dramaturgischen Inszenierung besteht ein Widerspruch, den wir nicht auflösen können.“
„PULS.“: Wie weit kann „anatomy for beginners“ als „Lehre“ bezeichnet werden? Was spricht dafür und was dagegen?“
T. S.: „Es wird von Lehre gesprochen: „Anatomy for beginners“ gibt vor, Bildungs- und Wissenschaftszwecken zu dienen. Im Vorspann ist zu lesen, dass dies auch die Grundlage für die Einwilligung der Körperspender war. Herr von Hagens stellt seine Arbeit sogar in die Tradition der Aufklärung.
Es entsteht bei „Anatomy for beginners“ aber eher der Eindruck des Spektakels und der Selbstdarstellung. Es geht um Sektionen vor Publikum, in einer Weise, die an Unterhaltungsshows erinnert, mit dramaturgischen Elementen und für eine möglichst große Anzahl von nicht definierten Personen im Sinne von Fernsehkonsumenten – also ein Spektakel (Spektakel (lat. spectaculum = Schauspiel, Anblick, auch Krach, Lärm) ein Ereignis, das Aufsehen erregt – Die Red.). Die eigentliche Problematik sehe ich in dieser Doppeldeutigkeit. Und genau darin liegt der Grund, warum ich glaube, dass von Hagens damit gegen den kulturellen Konsens des guten Umgangs mit Verstorbenen verstößt.“
„PULS.“ : „Warum reagieren wir so stark auf Herrn von Hagens Filme?“
R. F.: „Wir befürworten bestimmte gesellschaftliche Konventionen und darum empfinden wir Herrn von Hagens Zurschaustellung eines Leichnams als problematisch.
Herrn von Hagens Eitelkeit steht gegen seine selbst proklamierte Rationalisierung. Dazu kommt noch eine Emotionalisierung. Wie sieht es da noch mit der Würde des Verstorbenen aus?“
T. S. „Ich halte das Würdeargument nicht für stichhaltig. Zum einen ist die Würde m. E. an den personalen Charakter gebunden, der bei einem Leichnam nicht mehr vorliegt und zum anderen sind diejenigen, die ihre Körper für „Anatomy for Beginners“ spenden vielleicht gerade der Meinung, dass dies ihrer persönlichen Würde entspricht. Wir können aber mit dem Argument einer von uns für erhaltenswürdig befundenen Kultur argumentieren, die eine bestimmte Umgangsweise mit dem Leichnam beinhaltet. Dieser angemessene Umgang scheint mit dem Spektakel von Hagens Live-Sektionen kaum vereinbar zu sein.“
R. F.: „Die Würde des Menschen endet nicht mit dem Tod. Der Körper bleibt individuell und ist nicht austauschbar. Die Würde des Menschen auch nach seinem Tod zu wahren, bleibt ein hohes Desiderat. Ein Toter ist sogar besonders schutzbedürftig, denn er kann seine Würde nicht mehr selbst verteidigen. Darum geht uns Leichenschändung so stark gegen den Strich.“
R. F.: „Alle Kulturen haben für den Umgang mit Toten Formulierungen, in denen die Wahrung der Menschenwürde einen wichtigen Teil einnimmt. Das ist Teil unseres Menschseins. Die Entwicklung dieses Bewusstseins und dieser Rituale war ein Teil unserer Menschwerdung!
Darum ist in unseren Sektionskursen das Ritual der gemeinsamen Beisetzung der Körperspender so wichtig: Es ist ein würdevolles Ende, die Körperspender bekommen ihre Namen zurück und werden feierlich beigesetzt. Die gemeinsame Feier ist eine abschließende Zeremonie, für die Angehörigen und Studierenden. Das sehen wir ja auch immer wieder an den starken Reaktionen der Hinterbliebenen am offenen Grab.“
T. S.: “Der springende Punkt ist: Es geht um Menschen. Für den Umgang mit lebenden und toten Menschen gelten bestimmte Regeln, das ist etwa auch am Verbot des Klonens von Menschen und der damit verbundenen Diskussion deutlich geworden.
Die Leiche eines Menschen ist nicht einfach Biomasse, sondern sie ist wenn man so will, Referenz auf eine verstorbene Person. Von daher sollte man möglichst achtsam und ehrfürchtig mit dem menschlichen Leichnam umgehen. Das Hauptproblem ist die Ambivalenz von von Hagens Aktivitäten. Hinter dem Spektakel mit seinen exzentrischen und ökonomischen Implikationen droht die eigentliche Intention der „Lehre und Forschung“ zu verschwinden, sofern sie authentisch je bestanden hatte.“
R. F.: „In meinem Glauben ist das Leben etwas Singuläres. Der Leichnam sollte durch die Inszenierung im Film pseudolebendig erscheinen und wird als Requisite eingesetzt. Herrn von Hagens Exponate wirken auf mich extrem entblößt und nackt. Der Voyeurismus und Exhibitionismus, der durch „Anatomy for beginners“ angesprochen wird, wirkt abschreckend.
Zusätzlich wirkt auch der künstlerische Aspekt irritierend: von Hagens bezeichnet sich selbst als Künstler und läuft mit dem Beuys-Hut durch die Gegend. Ein verstorbener Mensch sollte aber nicht ein Teil einer künstlerischen Inszenierung sein. Das entspricht nicht unserer kulturellen Vorstellung von einem respektvollen Umgang mit einem Verstorbenen.“
„PULS.“: „Wie würden Sie nun abschließend die Fragen des Studenten „Darf man so etwas tun?“ und „Gilt das noch als Lehre?“ beantworten?“
R. F.„Herr von Hagens instrumentalisiert die Leiche für seine Selbstdarstellung. Ehrfurcht, Respekt und Würde sind wichtige Elemente unseres humanistischen Weltbildes. Das schließt die Instrumentalisierung einer Leiche zur Selbstdarstellung eines Referenten aus. Im Falle des Herrn von Hagens rückt seine Eitelkeit in den Vordergrund. Er verkauft seine Selbstdarstellung unter dem Deckmäntelchen von Lehre und Forschung.“
T. S. „Ob es sich dabei „noch“ um Lehre handelt, weiß ich nicht. Die Gesellschaft hat aber das Recht, bestimmte Praktiken abzulehnen, auch wenn ein normativer Imperativ nicht eindeutig zu begründen ist. Vor diesem Hintergrund lehne ich inszenierte Sektionen in der Machart von „Anatomy for beginners“ eher ab und würde diese Empfehlung auch an die Studenten weitergeben.“
Das Gespräch führte die „PULS.“-Redakteurin Bettina Wurche.
„PULS.“ bedankt sich für das spannende und engagierte Gespräch bei Herrn Frisch und Herrn Dr. Sauer.
Bettina Wurche