Neulich war ich auf Recherche –Tour im FINeST (Frankfurter Institut für Notfallmedizin und Simulationstraining). Dort werden Medizinstudierende in Notfallmedizin trainiert und üben an Simulatoren Wiederbeatmung, Herzmassage und andere lebensrettende Techniken. Einer der wichtigsten Simulatoren, der Blutdruck, Herzschlag und anderes vortäuschen kann, ist „Little Anne“.
Das Gesicht dieses Simulators ist der echten Totenmaske einer jungen Frau nachempfunden!
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchten in Frankreich und Deutschland zahlreiche Reproduktionen auf, die das entrückte Gesicht einer jungen Frau zeigten. Durch die damals üblichen Reproduktionsverfahren verbreitete sich das Bild vor allem unter Künstlern recht schnell.
Es soll die Totenmaske einer jungen Frau sein.
Sie war um 1900 in Paris in der Seine ertrunken, ihre Identität war nicht bekannt.
Aber ihr Gesichtsaudruck war – ungewöhnlich für eine Wassserleiche – überirdisch entrückt, sie lächelte.
Im Pariser Leichenschauhaus (Morgue) wurde sie für einige Tage ausgestellt, weil man hoffte, dass jemand sie identifizieren könne. Das berühmte Leichenschauhaus war damals eine regelrechte Attraktion und hatte tägliche mehrere Tausend schaulustiger Besucher.
Weil die Tote noch im Tod wunderschön lächelte, hatte ein Mitarbeiter des Pariser Leichenschauhauses ihren Gesichtsabdruck in Gips abgenommen. Daraus ließ er eine Totenmaske anfertigen, von der in den folgenden Jahren zahlreiche Abdrücke gemacht wurden. Diese Totenmasken kamen bei der Pariser Bohème als morbides Einrichtungsaccessoire in Mode (William Gaddis).
Der rätselhaft friedvolle Gesichtsausdruck der Toten war Anlass für zahllose Spekulationen über ihr Leben, ihre Todesumstände und ihre Befindlichkeit im Jenseits. Viele Künstler, vor allem Schriftsteller, verewigen die l`“Inconnue de la Seine”, die Unbekannte aus der Seine, in ihren Werken, in Gedichten, Romanen, Skulpturen und sogar einem Ballet.
„So sinniert etwa der Protagonist von Rainer Maria Rilkes einzigem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910):
Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben seiner Tür ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als es wüßte.
1926 veröffentlichte Ernst Benkard Das letzte Antlitz, einen in mehrere Sprachen übersetzten Band über Totenmasken, in dem es über die Unbekannte heißt, sie sei „uns jedoch ein zarter Schmetterling, der, sorglos beschwingt, an der Leuchte des Lebens seine feinen Flügel vor der Zeit verflattert und versengt hat.“
[…].
Maurice Blanchot, der ebenfalls eine solche Maske besaß, beschrieb sie als „une adolescente aux yeux clos, mais vivante par un sourire si délié, si fortuné, [...] qu’on eût pu croire qu’elle s’était noyée dans un instant d’extrême bonheur“ (dt. „ein junges Mädchen mit geschlossenen Augen, das jedoch belebt war durch ein so entspanntes, beglücktes Lächeln [...], dass man hätte glauben können, sie sei in einem Moment großer Glückseligkeit ins Wasser gegangen.“).“ (wikipedie: Die Unbekannte aus der Seine).
Der entspannte friedliche Gesichtsausdruck des Simulators ist also der Totenmaske einer jungen Frau nachempfunden. Aus der anonymen Plastikpuppe wird auf einmal das Abbild einer lebendigen jungen Frau.
Ein seltsames Gefühl…
Und der Simulator “Little Anne” mit dem Gesicht der unbekannten Toten hilft seit mehreren Jahrzehnten in der Notfallmedizin, Menschen vor dem Tod zu bewahren.
Ein echtes Happy-End für eine Wasserleiche.
Bettina Wurche