Woher „weiß” eine Zelle, wo „oben“ oder „vorn“ ist“?
Wozu muss sie das wissen?
Und: Was macht die Zellpolarität im Exzellenzcluster „Cardio-Pulmonary System“?
Die Pharmazeutin Frau Dr. Ruth Michaelis-Popp geht diesen Fragen auf den Grund. Oder eher auf die Zellmembran.
Es gibt zwei Polaritäten:
- oben/unten (=apikal/basal)
- vorn/hinten (=planar).
„Epithelzellen müssen wissen, wo oben und unten ist. Ein Beispiel dafür sind die Epithelzellen in Hohlorganen wie der Blase: Oben ist immer zum Hohlraum des Organs hin. Die Basallamina der Zellen ist also vom Hohlraum abgewandt und „unten“.“ Die Bedeutung der apikal-basalen Polarität bei Epithelzellen ist offensichtlich: Epithelzellen im Lungenepithel oder in verschiedenen Sinnesorganen tragen Härchen auf der „oberen“ – also der luminalen – Seite oder haben andere spezifische Anforderungen an ihre Struktur. Diese Polarisierung garantiert den gerichteten Transport über epitheliale Schichten.
Aber wozu muss eine Zelle wissen, wo vorn und hinten ist?
Die Polarität wird wichtig, wenn Zellen sich teilen oder sich in Bewegung setzen.
Auch Endothelzellen zeigen eine Polarisierung und Dr. Ruth Michaelis-Popp hat jetzt herausgefunden, wie diese reguliert wird.
Und da wird das Ganze jetzt interessant für die kardio-vaskuläre Forschung – schließlich besteht das Gefäßsystem zu einem großen Teil aus Endothelzellen!
„Scribble“ weiß, wo es lang geht
„Die Zellen „wissen“ durch ihre Polaritätsproteine, wo oben und unten ist.“ Ein Polaritätsprotein heißt Scribble. Dieses Protein ist jetzt das Forschungsobjekt von Frau Dr. Michaelis-Popp.
Scribble „sitzt“ in der basalen Membran, also „unten“.
„Unten“ ist in Endothelzellen da, wo die glatte Muskulatur ansetzt – vom Gefäßlumen abgewandt. Die exakte Lokalisierung von Scribble innerhalb der basalen Zellmembran ist in einem TIRF (Total internal reflection microscopy)-Mikroskop deutlich sichtbar.
Scribble ist auch in Endothelzellen nachweisbar und hat dort verschiedene Funktionen: Es reguliert die planare Polarisierung der Zelle von vorn nach hinten. Epithel- und Endothelzellen müssen sich manchmal bewegen – etwa, um Verletzungen zu reparieren. Sie sitzen in Zellverbänden und sind nur über Proteine (gap-junctions) in den Zellwänden locker miteinander gekoppelt. Diese Proteinbindungen können leicht gelöst werden, dann kann die Zelle „wandern“.
Die Endothelzellen registrieren einen Stimulus, der dazu führt, dass sich die Zellen in Bewegung setzen. Die Bewegungsrichtung „vorwärts“ (in Richtung der Stimulus) definiert in der Zelle „vorn“. Wenn die Zellen durch Scribble koordiniert in die richtige Richtung „laufen“, können so neue Gefäße entstehen.
Ohne Scribble-Protein können sich die Zellen zwar auch bewegen, aber sie erkennen nicht die richtige Richtung – sie bewegen sich nur unkoordiniert und bilden keine funktionalen Strukturen.
Scribble und seine Auswirkung können im In vitro-Zell-Experiment (Migration assay) direkt beobachtet werden: „In einigen Zellen hemmen wir die Bildung von Scribble.“ erklärt die Pharmakologin. „Dann bewegen sich die Zellen nicht mehr in die richtige Richtung, sondern orientierungslos im Kreis.
Durch neue Mikroskop-Kamera-Systeme können wir das im Life-Cell-Imaging beobachten und sogar die Bewegung jeder einzelnen Zelle nachvollziehen und ihren „Pfad“ nachzeichnen.“ (s. Abb.)
„Live cell imaging“ - migrierende Zellen im Film
Nach der Applikation eines chemotaktischen Stimulus, der die Bewegung der Zellen in eine vorgegebene Richtung (hier oben) bewirkt, wurden Aufnahmen von Zellen mit Scrib (“Kontrolle”: Film 1) und nach Hemmung der Scrib Bildung (“Ohne Scrib”: Film 2) mit Hilfe eines Kamera-verbundenen Mikroskops gemacht und als Film dargestellt.
Film 1: “Kontrolle”
Film 2: “Ohne Scrib”
Ohne Scribble: Fehlbildungen und Probleme bei der Angiogenese
Zu wenig Scribble hat schwere physiologische Konsequenzen: Die Bildung neuer Blutgefäße ist gestört! Die gerichtete, koordinierte Fortbewegung ist also die Voraussetzung für die Angiogenese.
„Experimente mit Zebrafisch-Larven zeigen deutlich: Der Mangel an Scribble kann zu gestörter Angiogenese und zu Missbildungen oder Blutungen führen. Die Folgen treten sogar sehr schnell ein:
Wenn das Zebrafisch-Ei befruchtet wird, sind schon nach 36 oder 48 Stunden die pathogenen Folgen an der Fischlarve im Ei zu sehen. Dabei kommen z. B. Gehirnmissbildungen oder –blutungen vor, die in der Regel letal sind.“ erzählt Frau Dr. Michaelis-Popp.
Scribble in der therapeutischen Anwendung?
Wenn eine Fehlregulation von Scribble zu Problemen bei der Neubildung bzw. Reparatur von Gefäßen führt, könnte man daraus neue Therapie-Formen entwickeln:
„Scrib könnte daher zukünftig ein interessantes Target für pro- und anti-angiogene Therapien darstellen. Dies erscheint insbesondere relevant für die Tumorangiogenese, da Scrib auch als Tumorsuppressor in Epithelzellen wirkt“ meint Frau Dr. Michaelis-Popp.
Was kann das Scribble-Polaritätsprotein noch?
Scribble beeinflusst auch die Bildung der Neuronen, darum führt der Scribble-Mangel auch zu neuronalen Schäden. Es gibt möglicherweise sogar erste Hinweise auf eine Verbindung zwischen einem Scribble-Mangel und Autismus. Diese Zusammenhänge sind aber erst wenig erforscht.
„Ein weiteres sehr wichtiges Forschungsfeld ist der Zusammenhang von Scribble und Inflammationen (entzündlichen Prozessen). Bis jetzt wissen wir: Inflammatorische Signale scheinen Scribble zu unterdrücken. Scribble reguliert dann wiederum inflammatorische Prozesse. Das ist ein sehr komplexes Thema mit vielen Ursachen und umfangreichen Wechselwirkungen, da stehen wir ganz am Anfang.“
Damit gibt sie einen Ausblick auf viele weitere Fragen in der Scribble-Forschung.
Also: Zellen müssen unbedingt wissen, wo oben und unten, vorn und hinten ist.
Der Scribble-Level von Zellen und ihre Polarität haben unmittelbaren Einfluss auf die Angiogenese, Wundheilung, neuronale Verknüpfungen und inflammatorische Prozesse.
Die Erforschung dieser Zusammenhänge steht teilweise noch am Anfang, der Exzellenzcluster „Cardio-Pulmonary System“ leistet hier Pionierarbeit. Gleichzeitig ist durch die enge Verknüpfung des Forschungslabors und der Klinik bereits frühzeitig die Diskussion um die praktische Anwendung garantiert.
Es bleibt spannend!
puls. bedankt sich bei Frau Dr. Michaelis-Popp für das Interview aus der aktuell laufenden Forschung!