Vorgestellt:
In dieser Rubrik werden historische oder heute lebende Personen und Personengruppen vorgestellt, die von besonderer Bedeutung für den Fachbereich Medizin waren bzw. sind.
Tilly Edinger
Tilly Edinger hat selbst nur kurz im Fachbereich Medizin gearbeitet. Über ihren Arbeitsschwerpunkt, die Paläoneuroanatomie, und ihren Vater, Ludwig Edinger, war sie aufs Engste mit dem Fachbereich verbunden. Sie war eine der ersten Frauen, die an der Universität Frankfurt promoviert hatte und wurde eine international äußerst angesehene Wissenschaftlerin.
Johanna Gabriele Ottilie Edinger wurde 1897 in Frankfurt am Main als jüngste Tochter von Anna und Ludwig Edinger geboren.
Die Mutter, Anna Edinger geb. Goldschmidt, war eine herausragende kommunale Sozialpolitikerin Frankfurts. Durch ihre Herkunft aus einer sehr wohlhabenden Frankfurter Bankiersfamilie waren sie und ihre Familie finanziell unabhängig.
Der Vater, Ludwig Edinger, war ein Pionier der Hirnforschung und der erste Professor für Neurologie in Deutschland. Er gründete und finanzierte 1907 in Frankfurt das Neurologische Institut, eine interdisziplinäre Arbeitsstätte zur Erforschung des Nervensystems. 1912 war er einer der Mitunterzeichner des Stiftungsvertrags zur Gründung der Universität Frankfurt am Main, die dann 1914 eröffnet wurde.
Die Eheleute Edinger waren Vorreiter der Frauenemanzipation und setzten sich unter anderem für den Zugang von Frauen an die Universitäten ein.
Studium in Heidelberg, Frankfurt und München
So war es nicht verwunderlich, dass ihre Tochter Ottilie, „Tilly“, ein naturwissenschaftliches Studium aufnahm, in einer Zeit, in der das Studieren im Allgemeinen und die Beschäftigung mit Naturwissenschaften im Besonderen für Frauen nicht selbstverständlich waren
(http://www.archiv.rwth-aachen.de/rea/Seite/geschichte_1933.htm).
Tilly Edinger studierte in Heidelberg, Frankfurt und München Naturwissenschaften vor allem Zoologie und Geologie, schon früh interessierte sie sich für vergleichend-anatomische Studien im Grenzbereich der Zoologie und Paläontologie.
1920/21 schrieb sie ihre Doktorarbeit über die Anatomie des Gaumens von Nothosaurus. Nothosaurier sind aquatische Reptilien, die vor 245 bis 210 Millionen Jahren in den küstennahen Gewässern Asiens und Europas gelebt hatten (http://de.wikipedia.org/wiki/Nothosaurier).
Ein Nothosaurus mit natürlichem Schädelausguss
Während ihrer Arbeit stieß sie in Heidelberg auf ein Schädelfragment von Nothosaurus mirabilis, dessen Schädelhöhle mit Sediment gefüllt war.
Solche Schädelausgüsse sind bei Fossilien nicht selten: Liegt der Kopf eines Wirbeltieres im Wasser, sammelt sich nach dem Verwesen des Schädelinhalts über Augenhöhlen und Hinterhauptsloch eindringendes Wasser, das oftmals Sedimentfracht mitführt, innerhalb des Schädels. Das Sediment lagert sich im Schädel ab, wird im Laufe von Jahrmillionen verdichtet und gibt schließlich als natürlicher Schädelausguss (Endocast) die Form des Gehirns dreidimensional wieder (http://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%A4delausguss). Ein solcher Schädelausguss zeigt die Größe des Gehirns und die Ausbildung der unterschiedlichen Hirnareale und zeichnet Details wie Gehirnwindungen und große Blutgefäße nach.
Die Existenz von Schädelausgüssen wurde bereits1804 von dem Wirbeltieranatomen Georges Cuvier beschrieben, ohne in ihrer vollen Tragweite erkannt zu werden.
Erst Tilly Edinger, die durch die intensive Beschäftigung ihres Vaters mit Neurologie und die große Sammlung an Tiergehirnen in seinem Institut mit dem entsprechenden Wissen zur Hirnforschung vertraut war, erkannte die besondere Bedeutung dieses Fossils.
Sie wurde die Begründerin der Paläoneurologie, der systematischen Analyse von fossilen Schädelausgüssen zur Klärung von Fragen der Evolutionsforschung.
Nothosaurus mirabilis, war also wahrhaftig ein „wunderbarer“ (mirabilis: lat. Wunderbar, erstaunlich), gab er doch den Anstoss für eine neue Forschungsrichtung!
Wissenschaftliche Karriere in Deutschland
Tilly Edinger beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit der Paläoneurologie fossiler Reptilien und Säugetiere. Sie untersuchte die Schädelausgüsse von Seekühen, Fledermäusen und Pferden und interpretierte diese aus evolutionsbiologischer Perspektive.
Zwischen 1921 und 1938 arbeitete sie am Senckenberg-Museum, zunächst als Assistentin der geologischen Abteilung und ab 1927 als Kustodin (Sektionärin) in der Wirbeltiersammlung. Beide Positionen waren unbezahlt.
Ihre Aufzeichnungen aus dieser Zeit weisen darauf hin, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit mit organisatorischen Arbeiten verbrachte: sie ordnete chaotische Sammlungen fossiler Fische, Amphibien, Reptilien und Säugetiere, die in Schränken oder in Pralinenkartons lagen. Diese Sammlungen boten der jungen Wissenschaftlerin die einzigartige Gelegenheit, sich intensiv mit Schädeln und Schädelausgüssen fossiler Tetrapoden zu beschäftigen und gleichzeitig mit Schädeln und Gehirnen rezenter Tiere aus anderen Abteilungen des Museums zu vergleichen.
Neben ihrer umfangreichen organisatorischen und wissenschaftlichen Arbeit fand sie auch noch Zeit, populärwissenschaftliche Artikel über Vergleichende Anatomie für die Senckenberg-Publikation „Natur und Museum“ und Radiosendungen („Die Senckenberg-Viertelstunde“) zu verfassen. 1929 gestaltete sie für die Mainzer Firma Werner & Mertz, die z. B. Schuhpflegeprodukte wie die Schuhcreme ERDAL produzierte, Sammelbilder zum Thema „Tiere der Vorzeit“. Die Bildchen zeigten jeweils eine Abbildung eines Urzeit-Tieres, z. B. Nothosaurus, und einen kurzen Text.
Daneben war Tilly Edinger von 1931 bis 1933 Assistentin am Neurologischen Institut der Universität Frankfurt.
Emigration in die USA
Nach den Novemberpogromen 1938 verließ sie 1939 Deutschland und emigrierte über England in die USA. 1940 wurde sie in Cambridge/Massachusetts wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum of Comparative Zoology, 1944/45 nahm sie eine Vertretungsdozentur im Fach Zoologie am Wellesley College an.
Sie etablierte die neue Wissenschaft „Paläoneurologie“, die Erforschung der Gehirne ausgestorbener Wirbeltiere, und veröffentlichte ihre Pionierarbeit in zahlreichen Büchern. „Die fossilen Gehirne“ von 1929 und „Evolution of the Horse Brain“ von 1948 waren ihre wichtigsten Publikationen.
Schon zu Lebzeiten war sie eine sehr angesehene Wissenschaftlerin, sie erhielt Ehrendoktorwürden der Universitäten Wellesley (1950), Gießen (1957) und Frankfurt (1960).
Am 26.05.1967 verstarb Tilly Edinger an den Folgen eines Verkehrsunfalls: Sie war auf der Straße vor dem Harvard-Museum für vergleichende Zoologie von einem Auto angefahren worden.
Sie wurde, ihrem Wunsch entsprechend, auf dem Frankfurter Hauptfriedhof im Familiengrab beigesetzt.
Nachruf und Ehrungen
Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould nannte Tilly Edinger eine der außergewöhnlichsten Naturwissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts.
1994 erfuhr sie posthum noch eine ungewöhnliche Ehrung:
Ein Krater des Planeten Venus wurde nach ihr benannt (http://planetarynames.wr.usgs.gov/jsp/FeatureNameDetail.jsp?feature=61891).
Quellen:
Hrsg.: Rolf Kohring; Gerald Kreft: „Tilly Edinger – Leben und Werk einer jüdischen Wissenschaftlerin“; 2003. ISBN 978-3-510-61351-9, Leinen, Preis: 39.80 €
http://de.wikipedia.org/wiki/Tilly_Edinger
http://imgespraech.buber-gesellschaft.de/hefte/9/wolf_edinger.pdf
http://www.springerlink.com/content/kn475833k8442n4p/
Emily A. Buchholtz and Ernst-August Seyfarth: “The gospel of the fossil brain: Tilly Edinger and the science of paleoneurology”, Brain Research Bulletin; Volume 48, Issue 4, 1 March 1999, Pages 351-361
http://www.archiv.rwth-aachen.de/rea/Seite/geschichte_1933.htm
b.w.