Eine studentische Vollversammlung an der medizinischen Fakultät ist ein Regelverstoß?
Bei einer Recherche stieß ich zufällig auf die Arbeit „Universität Frankfurt: Medizinische Fakultät 1968/1969 – Materialien zur Analyse von Opposition (Jürgen Schröder, Berlin, 2.3.2013)”.
Die Einleitung lautet:
„Um die Jahreswende 1968/69 herum erfolgen offenbar erste Regelverstöße in Form von studentischen Vollversammlungen und Vorlesungsboykotten an der medizinischen Fakultät, die zu Rücktritten aus der Fachschaft führen, die sich sowohl gegen die schlechten Studienbedingungen engagiert als auch für damals als links bzw. kritisch erachtete und daher durch Oppositionelle zu verfechtende Studieninhalte wie die Sozialmedizin und die Psychosomatik.
Darunter finden sich historische Dokumente unseres Fachbereichs – das Fachschaftsorgan „Kritische Medizin“ der medizinischen Fachschaft von 1968.
Es war die Zeit der Studentenunruhen und des Aufbegehrens gegen 1000-jährige Traditionen an deutschen Universitäten.
„Unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren!“ war der Schlachtruf, die Studentenproteste waren ein paar Nummer härter als heute.
Die Studenten lehnten sich gegen verkrustete Strukturen im Statt auf, gegen die mangelnde Aufarbeitung der nationalsozialaistischen Vergangeneheit. Es gab den Sozialistsischen Deutschen Studentenbund (SDS), die außerparlamentarische Opposition (APO) und gipfelte in der Erschießung des Studentenführers Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke (wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Westdeutsche_Studentenbewegung_der_1960er_Jahre).
Die Frankfurter Fachschaftspostille „Kritische Medizin“ wurde übrigens später in die medizinische Fachzeitschrift „Dr. med. Mabuse“ überführt, die immer noch eine kritische Position verficht und interessante Artikel für alle Gesundheitsberufe beinhaltet.
Die Inhaltsangabe des Heftes hört sich nach schwerer Lektüre an:
„Dezember 1968:
Vermutlich im Dezember wird von der Basisgruppe Medizin an der Universität Frankfurt die Broschüre “Kritische Medizin” veröffentlicht mit den Beiträgen:
- “Revolutionierung des Wissenschaftsbegriffes” von der Basisgruppe Medizin Berlin;
- “Vom ärztlichen Denken und Handeln” von Peter Crell;
- “Resumés aus Referaten und Diskussionen des Arbeitskreises für Medizinsoziologie der Basisgruppe Medizin Frankfurt”, zusammengefasst von Kriesel zu den Themen “Zur sozialen Herkunft der Medizinstudenten” und “Lernnormen der Medizinstudenten: ihre beschränkenden Auswirkungen für die ärztliche Praxis; sowie ihre politischen Implikationen”;
- “Medizinische Folgen sozialer Schichtung (Stratification) im Krankenhaus”;
- “Einige, noch nicht medizinwissenschaftlich erfasste Momente ärztlicher Praxis. Eine medizinsoziologische Analyse” von T. Parsons;
- “Kritische Anmerkungen zu Parsons ‘Social System’” von Gerd Francke; sowie
- “Revolution als Therapie” von Klaus Karsch.“
Es lohnt sich, ein bisschen weiter zu lesen. Einige Sichtweisen sind vollständig antiquiert: Kein Professor oder Dekanatsmitarbeiter würde heute eine studentische Vollversammlung als Regelverstoß bezeichnen.
Andere Gedanken- und Fragenkomplexe – etwa die soziologische Betrachtung des Selbstverständnisses von Ärzten oder des Arzt-Patienten-Verhältnisses – hört sich teilweise sehr aktuell an. Und macht nachdenklich.
Ein spannendes Zeit-Dokument, das auch heute noch Denkanstöße geben kann.
Bettina Wurche