(2. Teil des Interviews mit Prof. Dr. Marcel A. Verhoff, dem Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Goethe-Universität)
puls.: „Herr Prof. Dr. Verhoff, wie sieht die Zusammenarbeit mit der Polizei oder Gerichten im Alltag aus?“
M. V.: „Die Grundannahme ist, dass wir in einem hoch industrialisierten Land leben, in dem es z. B. an Universitäten Spezialisten verschiedenster Fachrichtungen gibt. Für die Aufklärung von Straftaten oder in Zivilverfahren können Gerichte dort Sachverständige finden, die bei der Aufklärung der jeweiligen Fragen helfen. Die Sachverständigen werden für ihre Tätigkeiten bei der Justiz finanziell entschädigt. Es war ursprünglich niemals vorgesehen, dass ein Sachverständiger durch diese Tätigkeit seinen Lebensunterhalt verdient, oder eine ganze Einrichtung, wie z.B. ein Institut für Rechtsmedizin von diesen Entschädigungen finanziert werden soll. Der Sachverständige muss nach dem Gesetz neutral sein. D.h. es muss ihm egal sein können, ob der Auftraggeber mit dem Ergebnis seines Gutachtens einverstanden ist, oder ob er überhaupt als Sachverständiger hinzugezogen wird. Die Entwicklungen der letzten Jahre könnten meines Erachtens die Unabhängigkeit der Sachverständigen gefährden.”
puls.: „Wann wird die Rechtsmedizin eingeschaltet?“
M. V.: „Ein Beispiel: Ein Selbstmord durch Kopfschuss.
Die Polizei findet am Tatort den Toten, die Waffe und einen Abschiedsbrief. Die Wohnungstür war geschlossen mit von innen steckendem Schlüssel, da die Wohnung im 6. Stock liegt, war ein Einsteigen durch das Fenster nicht möglich.
Alle Spuren passen zueinander, das Selbstmord-Szenario glaubwürdig.
Dann wird die Staatsanwaltschaft sehr wahrscheinlich keine gerichtsmedizinische Untersuchung anordnen.
Gibt es aber Zweifel an der Todesursache „Selbstmord“, muss die Staatsanwaltschaft eine gerichtliche Leichenöffnung anordnen. Bei erheblichen Verdachtsmomenten wird die Rechtsmedizin sofort an den Tatort gerufen, um frühzeitig mögliche Spuren zu sichern – dafür sind in Frankfurt ständig zwei Ärzte in Bereitschaft.
Die schnelle Kommunikation mit der Polizei ist also sehr wichtig.”
puls.: „Wie sehen die Zuständigkeiten für die rechtsmedizinischen Gutachter aus?“
M. V.: „Die rechtsmedizinischen Institute in Deutschland haben die Zuständigkeiten unter sich aufgeteilt, um eine unnötige Konkurrenzsituation auszuschließen. Natürlich steht es einem Richter frei, in speziellen Fällen Gutachter aus weiterer Entfernung zu berufen.
Die Ermittlungsbehörden müssen heute allerdings viele Leistungen europaweit ausschreiben und dann den günstigsten Anbieter nehmen. Solche gerichtsmedizinischen Leistungen unterliegen einer Qualitätssicherung durch eine Akkreditierung. Privatwirtschaftliche Institutionen picken sich die Rosinen aus der Tätigkeit heraus. Außerdem schöpfen sie aus wirtschaftlichen Gründen nicht alle Möglichkeiten so aus, wie eine Universität das kann, sondern beschränken sich eher auf Standardverfahren.
Wir haben z.B. immer wieder Fälle, in denen Polizisten uns sichergestellte Spuren bringen, die von einer anderen, nicht rechtsmedizinischen Institution schon ergebnislos untersucht worden sind. Die Polizisten bitten uns dann um die nochmalige Analyse, weil sie sicher sind, dass Spuren zu finden sein müssen. Da haben wir als universitäres Institut dann oft noch mehr Möglichkeiten, zeitaufwändige oder ungewöhnlichere, moderne aber kostenintensivere Methoden einzusetzen und dann doch noch zu einem Resultat zu kommen. Es wäre also vielleicht sinnvoller, gleich nicht das preiswerteste, sondern das beste Institut zu beauftragen. Aber wenn bei einem durch einen Billiganbieter bearbeiteten Fall nichts herauskommt, und es werden keine weiteren Untersuchungen veranlasst, hat man ja Geld gespart – ggf. auf Kosten der Rechtssicherheit.
Allerdings wird von uns zunehmend verlangt, kostendeckend arbeiten.
Eine Leichenöffnung kostete bis vor kurzem 500,00 €, jetzt sind es 1000,00 €. Dabei liegen die tatsächlichen Kosten bei 1200,00 € oder noch darüber.
Die Gutachtertätigkeiten werden zwar stundenweise vergütet, aber nicht kostendeckend.
Früher war es üblich, dass ein rechtsmedizinisches Institut seine Sockelfinanzierung hatte und über die Serviceleistungen zusätzliche Einnahmen erhielt.
Mittlerweile muss immer mehr Geld über die Gutachtertätigkeit erwirtschaftet werden.
Wenn wir in die Situation kommen, finanziell von der Justiz abhängig zu sein, kann das die Unabhängigkeit der Gutachter gefährden.
Das halte ich für eine sehr gefährliche Entwicklung!“
puls.: „Wie sehen rechtsmedizinische Forschungsarbeiten aus?“
M. V.: „Rechtsmediziner müssen als Sachverständige Aussagen vor Gericht so treffen, dass sie juristisch verwertbar sind.
Es reicht nicht aus, zu sagen, dass Alkohol die Fahrtüchtigkeit herabsetzt. Stattdessen müssen wir benennen können, mit einem wie hohen Anteil an Alkohol im Blut die Fahrtüchtigkeit in welchem Ausmaß verringert wird.
Genauso müssen wir auch für andere Substanzen –Drogen, Medikamente, u. ä. – angeben können, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie welche Wirkungen hervorrufen.
Einige Fragen können wir experimentell beantworten: Etwa, wie hoch der Alkoholgehalt einer Speise nach dem Flambieren noch ist.
In manchen Fällen können wir durch Vergleiche mit Tieren zu tragfähigen Aussagen kommen, in anderen Fällen helfen uns digitale Modelle weiter.
Beide Methoden sind aber nur eingeschränkt übertragbar auf Menschen.
Da geplante Experimente mit illegalen Drogen oder Verletzungen an Menschen natürlich weder rechtlich noch ethisch eine Option darstellen, müssen wir alle einzelnen Fallstudien, die vorkommen, gut dokumentieren und publizieren. Solche Einzelberichte werden von vielen medizinischen Fachbereichen aber kaum als Forschungsarbeit gewürdigt. In Kliniken etwa hat man meistens eine größere Anzahl von Patienten für Studien. Dadurch wird unsere Forschungstätigkeit manchmal falsch eingeschätzt.“
puls.:”In der Zeit des Nationalsozialismus wurden in Deutschland menschenverachtende Experimente durchgeführt. Darf die Rechtsmedizin oder die Medizin im Allgemeinen diese Erkenntnisse nutzen?“
M. V.: „ Die Versuche waren furchtbar. Aber sie haben Resultate gebracht.
Seitens der Rechtsmedizin haben wir beispielsweise bei einer interdisziplinären Tagung in Lübeck im Jahre 2002 diskutiert, ob wir die Ergebnisse aus diesen menschenverachtenden Versuchen zum Wohle der heutigen Menschen nutzen dürfen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir diese Resultate nutzen dürfen. Sonst würden die Opfer zweimal sterben.
Die ethische Diskussion, wozu Wissenschaft in der Lage ist, wenn Politik sie dazu treibt, ist hochaktuell.
Im Nationalsozialismus wurde diese und andere menschenverachtende Forschung gefördert und gefordert! Man muss sich dieser ethischen Probleme bewusst sein, gerade unter dem ökonomischen Druck.
Darum sehe ich die derzeitige starke Konzentration auf die Drittmittelforschung recht kritisch. Damit ist die Wissenschaft abhängig vom Mainstream.
Jeder Wissenschaftler muss selbst nach dem ethischen Hintergrund fragen und sein eigenes Handel kritisch reflektieren!
Vor einiger Zeit gab es in einem Krankenhaus einen Vorfall, dass ein Arzt an Patienten ohne deren Kenntnis und Einwilligung neue Medikamente erprobt hatte. Als das bekannt wurde, wurde der verantwortliche Arzt als Versuchsleiter dafür verurteilt. Aber dann kam noch heraus, dass im Rahmen dieses unrechtmäßigen Experiments vier Doktorarbeiten bereits erfolgreich beendet waren und offensichtlich die Promotionskommission und zwei Gutachter unbemerkt passiert hatten. Die Doktoranden sagten, dass sie sich auf ihren Doktorvater verlassen haben. Die Gutachter und die Kommissionsmitglieder stellten sich auf den Standpunkt, dass es nicht ihre Aufgabe sei, den ethischen Hintergrund einer Arbeit zu bewerten und entschieden, dass zukünftig alle Promotionsvorhaben vor Beginn der Ethikkommission vorgelegt werden sollen.
Das kann nicht richtig sein – jeder Wissenschaftler muss selbst nach dem ethischen Hintergrund seines Handelns fragen!
Es gibt bei uns momentan einen Trend, alles von Ethik-Kommissionen beurteilen zu lassen. Damit gibt ein Wissenschaftler aber die Eigenverantwortung auf! Die Verantwortlichkeit wird an eine Institution verschoben. Ich meine, dass jeder Forscher den Anspruch haben sollte, sich den Frage nach der Ethik des eigenen Handelns zu stellen und seinen Horizont diesbezüglich ständig zu erweitern.“
puls. dankt Herrn Prof. Dr. Verhoff für das spannende Interview!