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Rechtsmedizin (Teil 1): Dienst am Lebenden und am Toten

Rechtsmediziner sind mittlerweile mediale Helden:
Die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta von Patricia Cornwell
Die forensische Anthropologin „Bones“ Temperance Brennan von Kathy Reichs.
Ulrich Mühe als Gerichtsmediziner Dr. Robert Kolmaar in „Der letzte Zeuge“.
Auch im beliebten „Tatort“ werden sie immer häufiger zu tragenden Säulen der Handlung. Von dem skurril-genialen Prof. Börne mit Slapstick-Einlagen bis zu ernsthafteren Figuren jeglichen Gemüts im grünen Kittel.

Aber wie sieht der Alltag in einem universitären Institut für Rechtsmedizin aus?
Prof. Dr. Marcel A. Verhoff ist seit Oktober 2013 der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Goethe-Universität, sein Spezialgebiet ist die forensische Osteologie.
Im puls.-Interview und gibt er einen spannenden Einblick in die Arbeit der Rechtsmedizin.

puls.: „Herr Prof. Dr. Verhoff, was sind die Aufgaben der Rechtsmedizin in unserer Zeit?“
M. V.: „Die meisten Menschen denken bei „Rechtsmedizin“ zuerst an die Obduktion von Verstorbenen.
Das ist nur teilweise richtig.
Zunächst sollte man dazu die Aufgabenbereiche der „Pathologie“ und der „Rechtsmedizin“ sorgfältig abgrenzen:
Die Pathologie untersucht mittlerweile überwiegend Gewebe-Proben, die Anzahl der Sektionen ist hier bedauerlicherweise deutlich zurückgegangen. Dabei wäre dies sehr wichtig für die Überprüfung von Diagnostik und Therapie, also für die Qualitätssicherung in der Patientenversorgung. Allerdings müssen die Angehörigen des verstorbenen einer Sektion zustimmen und daran scheitert es dann oft. Immer wieder hört man aus dem klinischen Alltag, dass die behandelnden Ärzte des verstorbenen Patienten die Angehörigen gar nicht erst befragen, um so der Obduktion von vorneherein aus dem Weg zu gehen.

Die Rechtsmedizin setzt sich vielmehr mit Fragen der Justiz auseinander – dabei geht es um den Nachweis möglicher Gesetzesverstöße, mögliche krimineller Handlungen oder mögliche Gewaltopfer. Die Rechtsmediziner haben als sogenannte Sachverständige im Verfahren eine neutrale Position. Ob jemand eine kriminelle Handlung begangen hat oder ein Gewaltopfer geworden ist, kommt erst im Verlauf der Untersuchung heraus!
Wenn ein Anfangsverdacht besteht, können wir im Auftrag der Ermittlungsbehörden tätig werden.
Bei lebenden Menschen geht z.B. es um die Bereiche Häusliche Gewalt, Doping, Versicherungsbetrug, Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch, Verkehrsdelikte oder ärztliche Behandlungsfehler.
Wenn ein Arzt bei der regulären Leichenschau die Todesart nicht ganz zweifelsfrei als natürlich feststellen kann, muss er die Polizei informieren. Die Staatsanwaltschaft entscheidet dann, ob die Gerichtsmedizin eingeschaltet wird.
Die Rechtsmedizin besteht grundsätzlich aus den drei Bereichen Medizin/Morphologie, Toxikologie und der DNA-Analyse.
Als Institut einer Universität sind für uns natürlich Lehre und Forschung wichtige Aufgaben, daneben stehen die Serviceleistungen – unsere Expertise für die Justiz.“

puls.: „Welche Auswirkungen hat die Medienpräsenz auf die Lehre in der Rechtsmedizin? Wer ist Ihr persönlicher Favorit der Medien-Rechtsmediziner?“
M. V.: „Zu meinem Amtsantritt wurde eine Pressekonferenz einberufen – das hat mich schon ein wenig überrascht. Dieses Interesse ist positiv, denn wir Rechtsmediziner sind darauf angewiesen, dass uns die Öffentlichkeit wahrnimmt.
Früher war unsere Disziplin eher im Hintergrund, das hat sich durch die Medienaktivitäten geändert.
Die Medienpräsenz, vor allem die TV-Serien, haben einerseits zu einem sehr positiven Bild des Rechtsmediziners nach außen geführt und andererseits ein positives Bild eine starken Rechtsstaats vermittelt: „Wir finden alles ´raus“.
Mein persönlicher Favorit war der verstorbene Ulrich Mühe in der Reihe „Der letzte Zeuge“.
Etwa um die Jahrtausendwende sollten zahlreiche Rechtsmedizinische Institute geschlossen werden. Durch die Präsenz unserer Themen in der Öffentlichkeit konnte das weitgehend abgewendet werden. Letztlich geschlossen wurden nur die Institute in Marburg und Aachen.
Allerdings sind die Stellen, vor allem die Lehrstühle, massiv zusammengestrichen worden. Das bedeutet z.B., dass heute in Instituten mit ehemals drei Professuren nur noch eine übrig geblieben ist. Oder ein außerplanmäßiger Professor (Apl. Prof.) leitet ein Institut zunächst kommissarisch und später offiziell und das Institut verfügt über keinen Lehrstuhl mehr. Das hat natürlich massive negative Auswirkungen auf die Forschung und Lehre.“ Da die rechtsmedizinische Lehre meist aus Gewohnheit und Überzeugung in hoher Qualität und Umfang aufrechterhalten wird, leidet die Forschung am meisten.”

puls.: „Hat die Medienpräsenz auch direkte Auswirkungen auf die Lehre und die Akzeptanz unter den Studierenden für das Fach?“
M. V.: „Die Studierenden sind heute viel frühzeitiger und besser über das Berufsfeld informiert.
Ich habe das Studium Anfang der 1990-er Jahre begonnen und dieses Fach erst nach dem Physikum „entdeckt“. Regulär kommt man damit erst im 9. oder 10. Semester in Berührung. Für meine Famulatur in der Rechtsmedizin habe ich damals bis nach Kiel gehen müssen, das war noch gar an nicht in jeder Fakultät möglich. Für unser Institut ist mir darum sehr wichtig, dass wir das Praktikum „Berufsfelderkundung“, Famulaturen, das Wahltertial im „Praktischen Jahr“ (PJ) und Promotionen anbieten.“
Um die Studierenden frühzeitig im Studium anzusprechen, biete ich begleitend zum Anatomie-Kurs die freiwillige Teilnahme an einer Sektion an.
Außerdem halte ich im klinischen Studienabschnitt einen Kurs als Wahlpflichtfach in meinem Spezialgebiet, der Forensischen Anthropologie, da geht es vor allem um Osteologie und Bildidentifikation.“

puls.: „Was ist Forensische Osteologie und Bildidentifikation?“
M. V.: „In der forensischen Osteologie geht es u. a. um Knochenfunde. Einzelne Knochen, Skelettteile oder ganze Skelette, die der Polizei gemeldet worden sind, müssen analysiert werden. Zuerst geht es natürlich darum, ob es überhaupt menschliche Knochen sind. Dann geht es um weitere Aussagen zu Alter, Liegedauer, Geschlechtsbestimmung oder Verletzungen – wir tragen alle Fakten zusammen.”

Bei der forensischen Bildidentifikation geht es um die Bildauswertung im Kontext der juristischen Verfolgung von Straftaten oder Vergehen. Wir werten etwa Photos aus, die bei Geschwindigkeitsübertretungen aufgenommen worden sind. Oder die Aufnahmen von Überwachungskameras während eines Banküberfalls. Das Abbild des Gesichts kann je nach Winkel der Aufnahme und Kameraabstand ganz schön variabel sein. Damit Bilder aber als Beweismittel vor Gericht Bestand haben, müssen wir sie mit möglichst geringem Restzweifel zuordnen. Durch verschiedene relative Maße in einem Gesicht – etwa die Relation von Höhe und Breite oder die relativen Abstände von Mund, Nase, Augen und Ohren – können wir belastbare Aussagen machen. Dann kann man verschiedene Bilder miteinander korrelieren oder ein Bild sicher einer Person zuordnen.“

puls.: „Sie hatten in verschiedenen Interviews moniert, dass Morde unentdeckt bleiben könnten. Kommt das oft vor?“
M. V.: „Das wissen wir natürlich letztendlich nicht, aber es gab da schon einige Fälle, in denen Morde einfach übersehen worden waren und nur durch Glück bzw. Pech für den Täter ans Tageslicht kamen.
Die reguläre Leichenschau durch einen herbeigerufenen Arzt muss nach festen Regeln ablaufen: Der Verstorbene muss entkleidet und von allen Seiten betrachtet werden. Schuss- oder Stichwunden, die Trockenheit im äußeren Mundbereich durch Ersticken, auffällige blaue Flecken oder ähnlich offensichtliche Folgen äußerer Gewalteinwirkung sollten dabei entdeckt werden.
Das ist aber leider nicht immer der Fall.

Für eine Erdbestattung reicht die einfache, reguläre Leichenschau.
Ein besonders skurriler Fall war, dass einem Bestatter auffiel, dass Blut aus einem Sarg tropfte. Dafür ist schon ziemlich viel Blut nötig, da der Sarg mit saugfähigem Material gefüllt ist. Der Bestatter suchte also nach der Ursache. Schließlich stellte sich heraus: Der Verstorbene hatte eine Stichwunde am Rücken
So etwas hätte natürlich einem Arzt bei der Leichenschau auffallen müssen.

Für eine Feuerbestattung muss eine zweite Leichenbeschau durchgeführt werden, oft durch einen Rechtsmediziner.
Dabei fallen dann auch manchmal unnatürliche Todesursachen auf: Wir hatten einen Fall mit dem Leichnam eines sehr alten Mannes, der hatte ein großes Pflaster im Brustbereich. Das Pflaster war dilettantisch angelegt und bestand aus Taschentüchern und Klebeband – so etwas hätte kein medizinisches Personal gemacht. Und unter dem Pflaster war eine Messerstichwunde!”

Lesen Sie morgen Teil 2 des Interviews.

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