Das Physiologie-Praktikum ist ein wichtiger Bestandteil des Medizinstudiums: Hier geht es um die Grundlagen der menschlichen Physiologie. Über zwei Semester hinweg werden insgesamt neun Themen an jeweils einem Tag bearbeitet. Dafür stehen jedes Mal 6 Stunden Zeit zur Verfügung: für die theoretischen Grundlagen, die praktische Anwendung im Versuch und dessen Auswertung und Dokumentation. Der Kurs schließt mit einer Klausur ab.
An jedem Kurstag ist in dem Raum ein Parcours aus mehreren Versuchen aufgebaut, zusätzlich gibt es noch zwei schallabgeschirmte Hörkammern , wo die Studierenden ihre eigenen Audiogramme aufzeichnen können. Ein Kursleiter und zwei bis drei studentische Hilfskräfte betreuen in dem großen hellen Raum zwischen 20 und 24 Studierende.
Physiologie-Parcours zum Thema „Hören und Gleichgewicht“
Bisher konnten die Studierenden im Frankfurter Physiologie-Praktikum zum Thema „Hören und Gleichgewicht“ die Drehstuhlprüfung durchführen.
Ein neuer Versuch soll jetzt zu einem noch besseren Verständnis des komplexen Vestibularorgans führen: „Die thermische Prüfung des Vestibularorgans“.
„Bisher hatten wir im Praktikum schwerpunktmäßig mehr Versuche zum Hörsinn, uns war es wichtig, auch noch mehr zum
Gleichgewichtssinn anbieten zu können.“ erklärt die Kursleiterin Frau Dr. Heid dazu. „Jetzt können wir auch den engen Zusammenhang zwischen „Hören“ und „Augen-Reflex“ zeigen. Dieser neue Versuch zeigt also nicht nur ein kleines Detail unserer Sinnesorgane, sondern ermöglicht ein tieferes Verständnis für das Gesamtsystem mit seinen komplexen Zusammenhängen und Wechselwirkungen.“
Wegen seiner klinischen Relevanz ist dieser Versuch ein echter Gewinn für das Physiologie-Praktikum! „Die Messung des kalorischen Nystagmus ist eine Routineuntersuchung in der Klinik, um Defizite des Vestibularorgans zu darzustellen. Er wird in der HNO-Klinik angewendet, wenn ein Patient über Schwindel klagt. Das Symptom „Schwindel“ ist sehr häufig und kann viele unterschiedliche Ursachen haben. Es gibt sogar eine gesonderte Schwindelambulanz.“ sagt Frau Dr. Heid dazu.
Der Versuch basiert auf einem einfachen Zusammenhang:
Wenn ein thermischer Reiz auf das Vestibularorgan wirkt, wird der Augenreflex (Nystagmus oder „Augenzittern“) ausgelöst.
Der thermische Reiz kann in Form von warmer oder kalter Flüssigkeit oder in Gasform erfolgen.
Im neuen Versuch wird das Organ mit warmer Luft gereizt.
Statt warmer Luft könnte auch warmes oder kaltes Wasser in den äußeren Gehörgang geleitet werden. Bei Defekten des Trommelfells könnte dann allerdings Wasser in das Mittelohr eindringen, darum wurde dieser Versuchsaufbau aus Sicherheitsgründen nicht durchgeführt. Stattdessen wurde die thermische Prüfung des Vestibularorgans bisher nur als Film gezeigt. Wenig anschaulich für ein Praktikum.
Jetzt kann der Versuch mit einem oder mehreren Freiwilligen im Kurs direkt durchgeführt werden und ist damit life!
Durch die thermische Prüfung ist nun die getrennte Untersuchung des rechten und linken Vestibularorgans möglich. Mit dieser Differenzialdiagnose können Seitendifferenzen des Gleichgewichtssinns abgebildet werden.
Das ist ein großer Vorteil gegenüber dem bisher schon durchgeführten „Drehstuhltest“, bei dem nur beide Vestibularorgane gleichzeitig gestestet werden können.
Thermische Prüfung des Vestibularorgans
Wie läuft der Versuch in der praktischen Anwendung ab?
Der liegende Proband führt den Versuch an sich selbst durch. Das Liegen ist wichtig, da es zu leichtem Schwindel kommen kann.
Der Proband setzt eine Nystagmographie-Brille auf. Die große schwarze Brille ist überraschend leicht und dahinter ist es wirklich stockfinster. Die Brille enthält zwei Spiegel und eine Infrarotkamera. Sie zeichnet die Augenbewegungen auf, die dann per Beamer gleich auf die große Tafel übertragen werden.
Die Luft wird im Luftkalorisator auf 44°C erwärmt und ausgeblasen. Der Proband bläst die warme Luft über einen kleinen, flexiblen Schlauch in den äußeren Gehörgang.
Dadurch wird der horizontale Bogengang gereizt.
Die einseitige Reizung des Vestibularorgans löst eine typische Augenbewegung aus, den sogenannten Nystagmus, eine langsame Bewegung des Auges von der erwärmten Seite weg (vestibulo-okulärer Reflex), gefolgt von einer schnellen Rückstellbewegung zur erwärmten Seite hin (Sakkade).
Hintergrund für dieses Bewegungsmuster der Augen ist, dass das Gehirn die einseitige Reizung des Vestibularorgans als horizontale Drehung des Kopfes wertet. Um bei dieser (vermeintlichen) Drehung die Umgebung stabil im Blick halten zu können, suchen die Augen reflexartig (also auch in der dunklen Nystagmographie-Brille) einen Fixationspunkt, was sich im beschriebenen Nystagmus äußert. Bei der Reizung mit kalter Luft ergibt sich ein Nystagmus in die andere Richtung, also von der kalten Luft weg. Da kalte Luft im Gehörgang aber wesentlich unangenehmer ist, wird hier nur mit warmer Luft gearbeitet.
„PULS.“-Redakteurin Bettina Wurche hat den Versuch selbst ausprobiert.
Fazit: Die warme Luft ist nicht sehr unangenehm und auf den Versuch folgt auch nur ein sehr schwaches und sehr kurz anhaltendes Schwindelgefühl. Absolut kein Problem im Selbstexperiment.
„Wir gestalten das Praktikum aktiv und interaktiv. Die Studierenden können die Versuche miteinander durchführen. Das ist natürlich viel anschaulicher, als wenn man einfach einen Film dazu anschaut oder es nur vorgetragen bekommt“, erzählt Frau Dr. Heid. „Mit diesen Versuchen können wir beide Aspekte des Innenohrs – den Hör- und den Gleichgewichtssinn – demonstrieren und die komplexen Zusammenhänge zeigen. Darum war es für uns eine wichtige Ergänzung zum bereits bestehenden Praktikumsinhalt. Die Nystagmographie-Brille, der Luftkalorisator und ein Notebook für die Versuchsauswertung sowie dessen Programmierung ist über QSL-Mittel finanziert worden. Der neue Versuch wird jetzt ein Semester lang getestet, danach wollen wir ihn fest in das Physiologie-Praktikum übernehmen.“
Damit hat das Frankfurter Physiologie-Praktikum einen technischen Vorsprung gegenüber anderen medizinischen Fakultäten: „Wir sind in Frankfurt mit Räumen und Geräten für dieses Praktikum wirklich gut ausgestattet. Gerade die Nystagmographie-Brille ist noch lange kein Standard.“ ergänzt Herr Dr. Polleichtner.
„PULS.“-Redakteurin Bettina Wurche bedankt sich bei Frau Dr. Heid und Herrn Dr. Polleichtner für die Demonstration, die umfassende Erklärungen und die Anleitung zur Versuchsdurchführung.
Bettina Wurche