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Der Zwischenkieferknochen (2): Goethe, der Zwischenkieferknochen und das Weltbild

Der Dichter, Naturforscher und Namensgeber unserer Universität Johann Wolfgang Goethe entdeckte den Zwischenkieferknochen beim Menschen (wieder) und schrieb begeistert darüber (Dieser kleine Gesichtsknochen war vorher bereits mehrfach beschrieben worden, u. a. 1780 durch den französischen Arzt Félix Vicq d’Azyr und 1779 durch den deutschen Anatomen Johann Friedrich Blumenbach).

Der holländische Mediziner Peter Camper – der „Anatomie-Papst“ zu Goethes Zeit – hatte einen weiblichen Orang-Utan seziert und dabei das Os prämaxillare gesucht und gefunden. Bei Menschen hatte er den Zwischenkieferknochen jedoch vergeblich gesucht. Daraufhin stellte er den Lehrsatz auf: der Mensch unterscheide sich grundsätzlich von den Affen, weil der Mensch keinen Zwischenkieferknochen habe. Damals vertraten Kirchengelehrte und Naturforscher gleichermaßen die Ansicht, dass Menschen und Tiere sich auch anatomisch  grundsätzlich unterscheiden müssten
Camper hatte sich offenbar weder einen menschlichen Säugling (mit Zwischenkieferknochen) noch einen erwachsenen Schimpansen (ohne Zwischenkieferknochen) angesehen.

Goethe hatte die Fachliteratur dazu ebenfalls studiert und dabei bemerkt, dass die Gelehrten sich hier gar nicht einige waren, daraufhin untersuchte er selbst weitere Schädel:
„Goethe jedoch ging […], nachdem er in den Fachnotizen stutzig geworden war, in das Jenaer Anatomische Institut zu dem ihm vertrauten Professor Loder und verglich alle dort vorhandenen Tierschädel mit Menschenschädeln. Sogar menschliche Embryonen waren in dieser Sammlung zu finden […].“
Über diese (Wieder)-Entdeckung des Zwischenkiefers schrieb er begeistert an mehrere Freunde und beeinflusste so auch den Philosophen Herder, der gerade an seinem Werk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ arbeitete.
Angeblich wurde die besondere Position des Menschen gegenüber den Tieren durch das Nicht-Vorhandensein des Zwischenkieferknochens unterstrichen. Goethe hatte nun nachgewiesen, dass Menschen und Tiere auch das Os prämaxillare gemeinsam haben: „Welch eine Kluft zwischen dem Osse intermaxillari der Schildkröte und des Elefanten! Und doch lässt sich eine Reihe Wesen dazwischen stellen, die beide verbindet“. „Das Wort „Wesen“ strich er dann knapp zwei Jahre später im Original wieder aus und schrieb „Formen“ dafür. Das war wissenschaftlich einwandfreier.“
Damit hatte dieser kleine Knochen das damalige Weltbild beeinflusst!

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