Der Countdown läuft! Am 26.06.2011 beginnt die Frauen-Fußball-WM!
Wir alle kennen aus dem Fernsehen oder von Stadionbesuchen Szenen, in denen Fußballer verletzt werden. Da beginnt es, neben dem Spiel selbst, für Mediziner interessant zu werden.
„PULS.“ bringt im Rahmen dieses besonderen Fußball-Events medizinische Hintergrund-Informationen und hat dazu einen Spezialisten interviewt: Dr. Sebastian Schneider.
Herr Dr. Schneider ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in der Orthopädischen Universitätsklinik Friedrichsheim und erfahren im Leistungssport. Sein Interesse am Sport war im Interview deutlich zu merken.
„PULS.“: “Guten Tag, Herr Dr. Schneider. Sie sind Orthopäde und haben Erfahrung in der medizinischen Betreuung von Leistungssportlern. Welche Aufgaben hat ein Sportarzt, der Fußball-Profis betreut?“
S. S.: „Ein Profi muss mit dem Sport sein Geld verdienen. Beim Fußball verdient er Geld für den Verein und den Verband (DFB) oder spielt für den Erfolg des Verbandes, inklusive Prämien. Darum haben der Verein und der DFB ein großes Interesse daran, dass Verletzungen sehr schnell erkannt und sofort behandelt werden, damit der Profi schnell wieder spielen kann.
Die Nationalelf wird von drei bis fünf Mannschaftsärzten betreut, so dass immer einer davon sofort ansprechbar ist. Diese Mannschaftsärzte sind erfahrene Fachärzte, die dann nach einer ersten Untersuchung und Diagnose in die entsprechende Fachklinik überweisen. Wenn sich ein Nationalspieler verletzt, bekommt er eine sehr umfassende Therapie und Nachbehandlung, damit er schnell wieder spielfähig wird. Dieser Vorgang ist mit dem „normalen Patienten“ nicht vergleichbar.“
„PULS.“: „Das hört sich schon etwas menschenverachtend an. Wenn man sich verschiedene Trainer anschaut, ergibt sich der Eindruck, dass ältere Trainer eher nur auf körperliche Leistung achten, die mit einem extremen körperlichen Verschleiß einhergeht. Daneben scheint es eine jüngere Trainergeneration mit einer Mentalität zu geben, die natürlich auch körperliche Leistung fordert, aber zusätzlich auch sportpsychologische Methoden einsetzt. Gibt es da vielleicht gerade einen Mentalitätswandel?“
S. S.: „Ja, die moderne Trainerausbildung geht innovative Wege: Statt nur körperlich zu powern, gibt es zusätzlich auch sportpsychologische Betreuung, wie z.B. Motivationstraining und mehr Taktikschulung. Diese Kombination von Training aus physiologischen und psychologischen Methoden scheint sich gerade durchzusetzen und zeigt etwa in der Bundesliga auch sehr gute Ergebnisse. Zusätzlich werden die Hierarchien „flacher“. Jürgen Klopp ist so ein neuartiger Trainertyp, der unter anderem das Motivationstraining sehr erfolgreich einsetzt.“
„PULS.“: „Wodurch entstehen die Verletzungen beim Kicken konkret?“
S. S.: „Charakteristische Verletzungen passieren beim Fußball vor allem im Bereich der unteren Extremitäten.
Beim Fußball wird mit hoher Geschwindigkeit gespielt. Die Kombination aus Tempo und Technik, also Laufen und Kicken, erfordert schnelles Umschalten zwischen unterschiedlichen Bewegungsabläufen. Dabei werden insbesondere die Gelenke sehr stark belastet. So kann ein Spieler sich in der eigenen Bewegung ohne Fremdeinwirkung verletzen, etwa durch das Verdrehen des Knie- oder Sprunggelenks.
Zusätzlich spielen die Platzverhältnisse eine Rolle: Auf aufgeweichtem oder gefrorenem Untergrund ist die Rutsch- und damit Verletzungsgefahr viel höher. Darum gibt es im Herbst und Winter immer mehr Verletzungen als im Frühling und Sommer. Dies ist allerdings auch durch die wellenförmige Belastung im Saisonverlauf begründet.
Auch die Wahl der Schuhe ist wichtig: Bei Markenfirmen wird sehr viel Geld in die Forschung investiert, etwa durch die detaillierte Analyse von Schuhen, die im Spiel kaputt gegangen sind. So werden die Schwächen sichtbar und der Schuh kann noch weiter perfektioniert werden. Auch die Länge der Stollen ist ein Kriterium. Längere Stollen geben besseren Halt, sie können sich allerdings auch schneller und tiefer im Untergrund verfangen. Aber auch das Obermaterial wird extrem beforscht.
Außerdem wird natürlich in direktem Körperkontakt gespielt. Dadurch wirken starke Kräfte auf die Körper ein. Durch den Aufprall eines anderen Spielers entstehen Verletzungen durch Fremdeinwirkungen.“
„PULS.“: „Welche Verletzungen sind beim Fußball besonders häufig?“
S. S.: „Bei den reinen Muskelverletzungen steht die Verletzung der ischio-cruralen Muskulatur, also im hinteren Oberschenkel an erster Stelle. Distorsionstraumata sind sehr häufig und bedeuten in der Regel lange Spielpausen. Im Kniegelenk bedeutet so ein Trauma oft Kreuzbandriss, eventuell kombiniert mit Meniskusverletzungen. Im Sprunggelenk sind vor allem die Außenbänder betroffen.
Wenn der Fuß fixiert wird, z. B. durch die Stollen im Untergrund, und der Oberkörper dann dreht, kommt man in eine ungesunde X-Bein-Stellung. Dabei kann dann das Kreuzband reißen, meistens ist es das vordere Kreuzband.
In dem Video „Michael Owen damaging his knee“ ist dieser Mechanismus sehr gut zu sehen.
Ein Distorsionstrauma des OSG bedeutet, dass das obere Sprunggelenk verdreht wird. Dabei werden Bänder gedehnt, im schlimmsten Fall können Bänder und/oder Kapsel sowie die Syndesmose reißen, wie bei Michael Ballack 2010, oder sogar eine Kombination mit Fraktur auftreten.
Dieses Video zeigt den klassischen Fall eines Distorsionstraumas des Tennis-Profis Michael Stich.
Weitere fußballtypische Verletzungen sind Kontusionen, die oft weniger schwerwiegend sind, oder Brüche.
Das folgende Video zeigt einen solchen Bruch, der durch einen Tritt verursacht wird.“
„PULS.“: „Gibt es eine wirksame Schutzausrüstung gegen Fußball-Verletzungen? Beim Eishockey etwa sind die Spieler ja fast komplett gepanzert.“
S. S.: „Natürlich gibt es einige Schutzmechanismen: Die Schienbeinschoner, die von den Stutzen gehalten werden, schützen gegen Tritte anderer Spieler. Allerdings nur die Schienbeine, Knie und Sprunggelenke sind natürlich weiterhin anfällig für Verletzungen.
Feste Schienen und andere Schutzmechanismen gehen aber in den meisten Fällen auf Kosten der Beweglichkeit. Die besonders empfindlichen Gelenke können nur schwer geschützt werden, weil sie die größtmögliche Flexibilität brauchen. Und Fußball ist nun mal ein Spiel, bei dem man extrem beweglich bleiben muss.
Eine Alternative ist allerdings das Tape. Mit diesem speziellen medizinischen Klebeband kann man besonders beanspruchte Gelenke stabilisieren. Es bietet eine Unterstützung eines Gelenks bei geringer Bewegungseinschränkung und kann dadurch Verletzungen verhindern. Tapes sollten übrigens unbedingt von einem Fachmann geklebt werden.
Die allerneueste Entwicklung heißt „Kinesio-Tape“, dabei wird vorab ein Tape so aufgeklebt, dass es die Durchblutung an dieser Stelle erhöht oder verringert und dadurch Muskeln lockern oder z.B. Entzündungen hemmen kann. Der wissenschaftliche Nachweis für deren Wirksamkeit ist noch nicht eindeutig. Eine Schutzfunktion hat diese Art von Tape allerdings nicht.“
„PULS.“: „Sehen Sie Unterschiede im Frauen- und Männerfußball bezüglich der Art, Anzahl und Schwere der Verletzungen?“
S. S.: „Ja, ganz klar. Da ist zunächst das geringere Körpergewicht: Die Spielerinnen sind im Durchschnitt leichter als die Spieler. Bei einem Aufprall kann ein Unterschied von 10, 20 oder mehr Kilogramm schon einen gewaltigen Unterschied machen.
Außerdem spielen Männer mit noch größerem Krafteinsatz und noch schneller als Frauen. Bei Frauen gibt es dadurch etwa weniger Knochenbrüche.
Dafür gibt es bei den Frauen signifikant mehr Kreuzbandverletzungen. Der Grund ist die etwas andere Anatomie im Knie: Im weiblichen Knie liegt die Gelenkachse anders, außerdem ist die Gelenkstabilität geringer. Zusätzlich wurde in einer Studie ein Zusammenhang mit dem Hormonhaushalt der Frau hergestellt.
Ein weiterer Grund für die Unterschiede bei den Verletzungen ist das unterschiedliche Zweikampfverhalten von Männern und Frauen. Auch dabei führen Gewicht, Geschwindigkeit und Krafteinsatz zu unterschiedlichen Verletzungsbildern.“
„PULS.“ dankt Herrn Dr. Schneider für das engagierte Gespräch mit den vielen Video-Beispielen.
Wir hoffen natürlich, dass es bei der Frauen-WM zu möglichst wenigen Verletzungen kommen wird.
Bettina Wurche
Zum Weiterlesen:
Anne Monika Becker: Verletzungen im Frauenfußball. Dissertation. Universität Saarbrücken 2006 (Volltext)
“PULS.”-Beitrag: “WM: Typische Gesichts- und Kiefer-Verletzungen beim Fußball” (Interview mit Herrn Prof. Dr. Dr. Sader anläßlich der Männer-WM 2010)
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