Interview: „Landpartie“ für Studierende der Allgemeinmedizin (Teil 2): Wie lebt und praktiziert es sich als Landarzt?
Interview mit Herrn Dr. Hans-Michael Schäfer (Leiter des Arbeitsbereichs Lehre, Institut für Allgemeinmedizin) (Teil 2)„PULS.“: „In der Berichterstattung über den Landarztmangel taucht oft die Behauptung auf, dass die jungen Mediziner überhaupt nicht auf dem Land leben wollen. Gibt es nicht auch Studierende, die selbst in eher ländlichen Gegenden aufgewachsen sind und sich dort sehr wohl fühlen?“
H.-M. S.: „Ja, natürlich gibt es Studierende, die auf dem Land aufgewachsen sind und sich auch gut vorstellen können, Landärzte zu werden. Schließlich kennen sie die Vorteile der dörflichen Gemeinden aus eigener Erfahrung.“
„PULS.“: „Welche Vorteile haben denn die dörflichen Gemeinden?“
H.-M. S.: „Den dörflichen Gemeinden wird oft vorgeworfen, dass sie so wenig kulturelle Angebote haben. Zunächst ist es ja so, dass die meisten Menschen relativ selten Theater, Museen oder Opern besuchen, auch wenn sie in der Stadt leben und theoretisch die Möglichkeit dazu haben. Außerdem wird immer übersehen, dass im ländlichen Raum eine ganze Reihe von sehr attraktiven Freizeitmöglichkeiten bestehen. In kleinen Gemeinden werden etwa viele Feste organisiert. Zusätzlich gibt es hier ein breites Angebot von Outdoor-Sportarten, die die Städte nicht bieten: Von Skilaufen bis Rafting.
Darum bieten wir unseren Studierenden einen zusätzlichen Event-Tag an, auf dem der Landkreis Fulda seine Freizeitmöglichkeiten vorstellt. Der Landkreis zwischen Rhön und Vogelsberg ist ein begehrtes Urlaubsgebiet und hat ein umfassendes Freizeitangebot wie Segelfliegen, Skilaufen, Hiking, Klettern, Rafting oder Wandern. Das ist ein wesentlich größeres Sport- und Freizeitangebot als eine Großstadt zu bieten hat.
Dazu kommt: In einer kleinen Gemeinde wird man viel stärker in die Gemeinschaft eingebunden. Und auf dem Land ist man als Arzt noch eine echte Respekts- und Vertrauensperson.“
„PULS.“: „Worin unterscheidet sich die Tätigkeit als Landarzt gegenüber einem Arzt in der Stadt?“
H.-M. S.: „Die Querschnittsbetreuung ist auf dem Land noch wichtiger als in der Stadt. Ein Landarzt hat ein hohes Sozialprestige, so wie Pfarrer, Lehrer, Bürgermeister oder Apotheker. Die Autonomie von Allgemeinmedizinern ist auf dem Land sehr hoch. Man kann fern von hierarchischen medizinischen Strukturen sehr unabhängig und selbständig arbeiten. Das ist ein riesiger Unterschied zu einer Tätigkeit beispielsweise in einer Universitätsklinik mit starren Hierarchien vom Assistenz- über den Oberarzt zum Chefarzt. Auch die Praxisteams sind in den Hausarztpraxen in der Regel gut aufeinander eingespielt, der Umgangston ist angenehm und kollegial. Das Leben auf dem Land ist insgesamt etwas entspannter. Außerdem ist man auch finanziell gut gestellt. Und auf dem Land Immobilien wesentlich weniger als in der Stadt.“
„PULS.“: Gibt es Zusatz-Skills aus einzelnen Fachdisziplinen, die für einen Landarzt besonders wichtig sind?“
H.-M. S.: „Nein, es kommt wirklich auf ein breites Wissen an. Ein Landarzt muss ja nicht alles allein behandeln, sondern muss wissen, an welchen Spezialisten er dann seine Patienten weiterleitet. Für den Hausarzt und Landarzt ist der breite Überblick über den einzelnen Patienten wichtig. In der allgemeinärztlichen Praxis werden die Behandlungen und Medikationen koordiniert, das Medikamentenmanagement ist ein sehr wichtiger Aspekt. Auch chirurgische und rettungsdienstliche Kenntnisse sind von Vorteil. Hausärzte sind als Gesundheitslotsen die Basis unseres Gesundheitssystems. In der Landarztpraxis kommt dann oft noch hinzu, dass Behandlungen der Fachärzte fortgeführt werden, da sie zu weit weg praktizieren und ihre Patienten z.B. nur einmal jährlich sehen.“
„PULS.“: „In vielen Interviews mit Landärzten wird von der starken Arbeitsüberlastung gesprochen: Neben der Vollzeit-Arbeit in der Praxis kamen noch zahlreiche Bereitschaftsdienste oder auch Notdienste nachts und an den Wochenenden dazu. Ist das heute noch der Fall? Oder gibt es mittlerweile alternative Lösungen, die Versorgung der Menschen zu gewährleisten ohne einzelne Ärzte bis an den Rand der Erschöpfung zu belasten?“
H.-M. S.: „Ja, mittlerweile gibt es dafür bessere Lösungen:
Besonders wichtig ist der kollegiale Vertretungsdienst, der den Nicht-Sprechstunden-Zeitraum nachts und am Wochenende abdeckt. Gegen eine relativ niedrige Gebühr können sich niedergelassene Hausärzte von Notdiensten und Bereitschaftsdiensten „freikaufen“, aber auch daran teilnehmen, wenn sie es möchten. Sie können Dienste übernehmen und erhalten dafür ein gesondertes Entgelt. Auch externe Ärzte können für ein gutes Honorar den Notdienst übernehmen. Dieser Notdienst beginnt freitags um 12:00 Uhr, wenn die normale hausärztliche Sprechstunde endet.
Eine weitere Verbesserung ist die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit. Eine Teilniederlassung zu 50 % ist für viele Ärzte attraktiv, weil dann mehr Zeit für die Familien oder, wie bei mir, für die Lehrtätigkeit an der Universität bleibt.
Ich selbst arbeite in einer Gemeinschaftspraxis mit drei Ärztinnen. Wir haben jeweils eine 50 %-Niederlassung. Dadurch, dass wir uns zu viert die Praxis teilen, decken wir Sprechstunden für viele Patienten ab und können sogar an mehreren Tagen der Woche noch Sprechstunden in den umliegenden Dörfern anbieten. Wir und die Patienten sind mit dieser Lösung sehr zufrieden.
Eine weitere Verbesserung ist die Aufhebung der Residenzpflicht: Seit dem 01.01.2012 dürfen Ärzte auch weiter von ihrer Praxis entfernt wohnen.“
„PULS.“: “Dann hat sich das Leben für Landärzte in den letzten Jahren beträchtlich verbessert?”
H.-M. S.: „Ja, insgesamt hat ein Landarzt heute eine viel höhere Lebensqualität: durch den kollegialen Vertretungsdienst, die Aufhebung der Residenzpflicht und die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit.“
„PULS.“: „Zurzeit gibt es eine heftige Diskussion darüber, ob die neue ÄApprO ein im PJ ein Pflichttertial für Allgemeinmedizin enthalten sollte. Was halten Sie davon?“
H.-M. S.: „Wir haben gemerkt, dass schon das verpflichtende Blockpraktikum im Fach Allgemeinmedizin viele Studierende motiviert, Hausarzt zu werden. Durch die sehr gute 1:1-Betreuung im Praktikum fühlen sie sich gut auf den späteren Job vorbereitet. Durch dieses 1:1-Lehrverhältniss, in dem jeweils ein Hausarzt einen Studierenden betreut, bewerten die Studierenden insbesondere auch das allgemeinmedizinische Tertial im PJ sehr gut und fühlen sich gut auf die M2-Prüfung vorbereitet.. Die jungen Leute merken, dass sie hier ihr Wissen aus den einzelnen Fächern zusammenbringen können und lernen die eigenständige Arbeit in der hausärztlichen Praxis sehr zu schätzen.
Die Hausärzte haben eine grundlegende Funktion in unserem Gesundheitssystem: sie sind die Gesundheitslotsen der Patienten. Darum sollte der Anteil der Hausärzte unbedingt ausgebaut werden.
Unsere Fachgesellschaft, die DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) schlägt daher vor, künftig ein Pflicht-Quartal im Fach Allgemeinmedizin einzuführen. Das PJ würde dann aus vier Quartalen bestehen, drei davon wären verpflichtend – Innere Medizin, Chirurgie und Allgemeinmedizin – und eines wäre weiterhin aus einer weiteren Fachrichtung frei wählbar!
Momentan haben wir in Frankfurt 20 Plätze im Wahltertial Allgemeinmedizin. Das Interesse an der Allgemeinmedizin ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen.
Den Vorschlag eines Pflicht-Tertials halten wir nicht für zielführend. Die endgültige Verabschiedung der Novelle der ÄApprO ist voraussichtlich für Mai 2012 angesetzt. Wir sind gespannt, wie die Entscheidung aussehen wird.“
„PULS.“ dankt Herrn Dr. Schäfer für das engagierte und umfangreiche Interview.
Das Interview führte „PULS.“-Redakteurin Bettina Wurche.
Bettina Wurche
Lesen Sie auch Teil 1 des Interviews „Landpartie“ für Studierende der Allgemeinmedizin